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„Charta der Wissenschaft“ : Grundgesetze für die Forscher

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Schwachstellen in Labors können in Zukunft bei der EU gemeldet werden

Schwachstellen in Labors können in Zukunft bei der EU gemeldet werden Bild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

In Deutschen Forschungsinstituten kommt es täglich zu haarsträubenden Situationen - doch bald sollen sich Wissenschaftler an eine zentrale Beschwerdestelle wenden können: Denn die EU-Kommission hat jetzt eine "Charta der Wissenschaft" formuliert.

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          Jeden Tag kommt es in Forschungsinstituten zu haarsträubenden Situationen. Professoren beauftragen im Labor ihre jungen Mitarbeiter mit Arbeiten, für die diese gar nicht ausreichend qualifiziert sind; Wissenschaftler bekommen Millionen Euro an Steuergeldern überwiesen - und bewahren ihre Forschungsergebnisse nur auf einem einzigen, absturzgefährdeten Rechner auf; Frauen werden aus dem Institut hinauskomplimentiert, weil sie schwanger sind; vor der Einreichung wissenschaftlicher Arbeiten setzen sich Vorgesetzte auf die Autorenliste, obwohl sie gar nicht mitgeforscht haben.

          Künftig sollen sich innerhalb der Europäischen Union Wissenschaftler, die solche und andere Mißstände erleben, an eine zentrale Beschwerdestelle wenden und eine Überprüfung der Vorfälle veranlassen können - zumindest dann, wenn sie selbst und ihre Universität oder ihr Unternehmen jene "Charta der Wissenschaft" unterzeichnet haben, die in Brüssel formuliert wurde und in den kommenden Tagen der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll.

          Erstaunlich wenig Wirbel

          Um diese Charta hat es bisher erstaunlich wenig Wirbel gegeben. Zwar betonen die Fachleute des für Forschung zuständigen EU-Kommissars Janez Potocnik, daß in einem einjährigen Konsultationsprozeß Vertreter der Wissenschaft aktiv mitgearbeitet hätten. Doch unter Wissenschaftlern selbst ist bisher über das Dokument kaum etwas bekannt. Dabei soll es so etwas wie eine Verfassung für die Forschung bilden, eine Sammlung von Rechten und Pflichten einzelner Forscher und der wissenschaftlichen Organisationen und Arbeitgeber. Der EU-Kommission schwebt vor, daß künftig auf Visitenkarten gedruckt steht: "Unterzeichner der EU-Charta der Wissenschaft" und daß dies eine Art Qualitätssiegel für einen Forscher oder eine Forschungsinstitution darstellt.

          Mit der Charta möchte die EU eine Lücke füllen, deren Existenz den Fachleuten zufolge die Entwicklung eines "Europäischen Wissenschaftsraums" behindert. Die Wissenschaft als solche kennt zwar zahlreiche ihr zugrundeliegende Regeln, doch meist werden sie mündlich und in variierender Form weitergegeben. Allgemeingültig niedergeschrieben sind sie jedenfalls bisher nicht. Einzelne Forschungsorganisationen, etwa die Max-Planck-Gesellschaft oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft, haben Kodizes. Doch noch gibt es kein einheitliches schriftliches Fundament, auf dem alle Forscher zwischen Zypern und Finnland, Portugal und Estland stehen, ob sie nun in staatlichen Instituten oder privaten Firmen beschäftigt sind, ob sie gerade ihre Doktorarbeit vollendet haben oder bereits als Professoren tätig sind.

          Der Entwurf besteht aus drei Teilen

          Der Charta-Entwurf, den der aus Slowenien stammende Kommissar Potocnik im Laufe dieser Woche in Brüssel erstmals vorstellen will, besteht aus drei Teilen. Der erste beschreibt Rechte und Pflichten jedes Forschers. Die Freiheit des Denkens und der Forschung ist an vorderster Stelle festgeschrieben, wobei zugleich zugestanden wird, daß die Wahl des Forschungsfeldes durch Arbeitsverträge mit Firmen eingeschränkt werden kann. Respekt vor den intellektuellen Leistungen anderer und ihren Patentrechten wird eingefordert, Plagiate und das Einmogeln auf Autorenlisten verurteilt. Wissenschaftler, heißt es, sollten die Rechtsgrundlagen ihres Handelns kennen, und sie sollten Vorgesetzte informieren, wenn ihnen Verstöße oder sonstige Fehler unterliefen. Verantwortlichkeit und Sparsamkeit im Umgang mit Steuergeldern, die andere erst hart erarbeiten müssen, werden nachdrücklich eingefordert, wozu Sicherungskopien der Ergebnisse zählen. Als Pflicht jedes Forschers wird in der Charta auch angeführt, daß er seine Ergebnisse veröffentlicht und der Öffentlichkeit erklärt.

          Im zweiten Teil der Forscherverfassung sind "Allgemeine Prinzipien für Arbeit- und Geldgeber" niedergeschrieben. Größtmöglicher Respekt sollte dem Forscher entgegengebracht werden, auch wenn er gerade erst seine Promotion abgeschlossen hat, länger arbeitslos war oder nur einen Zeitvertrag hat. Ein "anregendes Arbeitsumfeld" sollten Arbeitgeber schaffen und es ihren Mitarbeitern durch flexible Arbeitszeitmodelle und Kinderbetreuungsmöglichkeiten ermöglichen, Beruf und Familie miteinander in Einklang zu bringen. Der Trend, Wissenschaftlern nur noch kurzfristige Arbeitsverträge zu geben, wird ausdrücklich kritisiert: Eine "Kontinuität in der Beschäftigung" sei anzustreben, mit den Mitarbeitern solle eine "Strategie zur Karriereentwicklung" erarbeitet werden. Außerdem wird der Versuch unternommen, die bei vielen Forschern wenig geliebte Lehre aufzuwerten. Sie sei eine "wertvolle Option", dürfe aber nicht zu sehr vom Forschen abhalten. Arbeitgeber müßten auf Balance achten.

          Gefordert: externe, möglichst internationale Fachleute

          Im dritten Teil der Charta geht es um Auswahl- und Anstellungsverfahren, hier wird der Exzellenz als einzigem Kriterium eine Bresche geschlagen. Nicht von einzelnen Eminenzen sollten neue Stellen besetzt werden, sondern von Gremien, in denen die Geschlechter ausgewogen repräsentiert sein sollen wie auch externe, möglichst internationale Fachleute zum Beispiel aus der Privatwirtschaft oder anderen Forschungseinrichtungen. Menschen, die keine geradlinige Biographie vorweisen könnten, sollten ebensowenig benachteiligt werden wie Minderheiten jeder Art.

          Manche der angeführten Forderungen klingen wie Selbstverständlichkeiten, andere aber greifen Mißstände in der europäischen Wissenschaftskultur frontal auf. Ob freilich die EU überhaupt von den Forschern Europas als legitimer Urheber einer Charta akzeptiert wird, muß Kommissar Potocnik erst noch herausfinden.

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