Blutgerinnungshemmer : Im Notfall sehr bedenklich
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Bayer-Wissenschaftler in ihrem Labor in Berkeley: Der Pharmariese entwickelte Alternativen zum Marcumar. Bild: Bayer HealthCare AG
Patienten nehmen immer öfter Mittel, die die Blutgerinnung hemmen. Das soll Infarkten vorbeugen. Chirurgen stellt das aber im Notfall vor ernste Probleme.
Dieser Patient hätte wahrscheinlich nicht sterben müssen. Da gibt es für den Notarzt Marc Maegele im Nachhinein wenig Zweifel. Warum auch? Ein paar angeknackste Rippen, das Schlüsselbein gebrochen – als man den etwas verwirrten 75-Jährigen vor drei Jahren nach einem Sturz vom Fahrrad in Maegeles Ambulanz im Klinikum Köln-Merheim brachte, gab es eigentlich keinen Anlass, sich große Sorgen zu machen. Selbst die Blutprobe war unauffällig.
Trotzdem rutschte der Blutdruck immer weiter in den Keller, begann das Herz des Patienten zu rasen, und die Laborwerte meldeten immer dringlicher, dass irgendwo im Körper Blut verloren ging, rasch und unaufhaltsam. Wahrscheinlich war bei seinem Sturz eine kleine Arterie gerissen. Sie hörte gar nicht mehr auf, ins Gewebe zu bluten. „Wir haben alle Register gezogen, Blutkonserven, Gewebekleber, Gerinnungsfaktoren, sogar die Dialyse. Doch letztendlich ist uns der Mann unter den Händen verstorben“, erzählt Maegele. Inzwischen weiß der erfahrene Unfallchirurg auch, warum: Sein Patient hatte gerinnungshemmende Medikamente eingenommen.
Solche Mittel, im Fachdeutsch auch Antikoagulantien genannt, werden seit fast siebzig Jahren verabreicht. Schon immer war das ein gewagtes Spiel: Wird die Bildung von Gerinnseln gehemmt, um Thrombosen, Schlaganfälle und Lungenembolien zu verhindern, muss man zwangsläufig auch in Kauf nehmen, dass die Gerinnungsfunktion an anderer Stelle fehlt. Etwa dann, wenn lecke Blutgefäße dringend abgedichtet werden müssen. Das macht vor allem den Chirurgen zu schaffen: Ohne Hämostase, wie der Fachmann die Gerinnung nennt, können sie nicht operieren, wenn sie nicht riskieren wollen, dass ihre Patienten verbluten. Aber auch die Lysetherapie eines Schlaganfalls oder Rückenmarksnarkosen sind bei mangelhafter Gerinnung nicht immer möglich.
Neue Gerinnungshemmer verkomplizieren Notfalloperationen
Bis vor acht Jahren hatten die Mediziner deshalb bei der Gabe von Gerinnungshemmern stets ein Gegenmittel in der Hinterhand. War eine Operation nicht verschiebbar, beispielsweise nach einem schweren Unfall, bei einem Blinddarmdurchbruch oder einem gebrochenen Hüftgelenk, ließ sich die Wirkung des Medikaments innerhalb von Minuten neutralisieren. Dann kam 2008 mit dem Wirkstoff Dabigatran das erste Präparat einer ganz neuen Klasse von Gerinnungshemmern auf den Markt. Es handelte sich um die sogenannten „Nicht-Vitamin-K-abhängigen oralen Antikoagulantien“, kurz NOAKs.
Für drei der vier angebotenen Mittel stehen keine Gegenmittel mehr zur Verfügung, und auch beim Dabigatran musste man bis vor kurzem ohne Antidot auskommen. Erschwerend kommt hinzu, dass, wie in dem eingangs geschilderten Fall, die gängigen Laborwerte in der Regel nicht verraten, ob ein nichtansprechbarer Patient ein solches Medikament eingenommen hat. Geschweige denn, wann, wie und in welcher Dosis. Aufwendigere Tests könnten diese Information zwar liefern, nur stehen die nachts, am Wochenende und in kleineren Häusern meist nicht zur Verfügung.