Autismus : Warum darf zwölf nicht zweizehn heißen?
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Mittendrin und doch allein: Marcello Mazzon leidet unter dem Asperger-Syndrom. Bild: Wresch, Jonas
Asperger-Autisten haben es schwer, soziale Kontakte zu knüpfen. Dinge, die aus der Logik fallen, sind für sie unbegreiflich. Nach den Plänen der American Psychiatric Association soll es die Diagnose Asperger-Syndrom in der neuen Version des amerikanischen Klassifikationssystems nicht mehr geben.
Zwischen den sommerlich gekleideten Menschen, die vor dem Café unter bunten Sonnenschirmen sitzen, fällt Marcello Mazzon nicht auf. Weder seine Bewegungen oder sein Körperbau noch seine Mimik verraten, dass der großgewachsene Mann mit dem gestutzten Bart einen Schwerbehindertenausweis mit sich trägt. Seine Sprache, seine Kleidung, sein Auftreten - nichts an ihm wirkt auf den ersten Blick krank oder gar behindert. In welchem Bereich der Vierundzwanzigjährige eingeschränkt ist, merkt man erst, wenn man mit ihm ins Gespräch kommt, wenn man versucht, mit ihm über alltägliche Dinge, über seine Interessensgebiete oder seine Gefühle zu sprechen. Dann reagiert er verunsichert, weiß keine Antwort und bricht die Unterhaltung ab.
Mazzons Möglichkeiten, soziale Kontakte aufzubauen, Ironie zu verstehen und nonverbale Kommunikation richtig zu deuten, sind gestört. Er hat das Asperger-Syndrom - ein Krankheitsbild aus dem Formenkreis der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, eine Form des Autismus.
Nach der bisherigen Version des in Amerika geltenden Klassifikationssystem DSM-4 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, vierte Version) müssen für die Diagnose des Asperger-Syndroms qualitative Beeinträchtigungen in den Bereichen der sozialen Interaktion, der Kommunikation sowie ein eingeschränktes, sich wiederholendes und stereotypes Verhaltensmuster oder Interesse vorliegen. Mazzon beispielsweise beschäftigt sich mit den Vedischen Schriften, kann stundenlang bis ins Detail darüber erzählen. Freunde, mit denen er dieses Interesse teilen kann, hat er aber nicht. Auf die Frage, ob ihn das traurig macht, zuckt Mazzon mit den Schultern. „Ich habe nie nach einem Freundeskreis gesucht.“ Emotionen beschäftigen ihn nicht. Dafür hat ihn jahrelang während seiner Kindheit die Frage umgetrieben, warum Elf nicht „Einszehn“ und Zwölf nicht „Zweizehn“ heißt. Dinge, die aus der Logik fallen, sind für Betroffene des Asperger-Syndroms unbegreiflich, manchmal fast ein Unglück.
Das Asperger-Syndrom unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus durch eine fehlende Sprachentwicklungsstörung und durch eine gute bis überdurchschnittliche Intelligenz. Durch diese beiden Ressourcen im täglichen Miteinander fallen die sozialen Defizite der Betroffenen im Kindes- und Jugendalter häufig zunächst nicht auf - ein Grund, warum die Diagnose nicht selten erst spät gestellt wird, obwohl sie nach dem Stand der Ursachenforschung genetisch veranlagt und damit zeitlebens vorhanden ist.
Sarkasmus und Smalltalk müssen mühsam erlernt werden
Auch bei Mazzon wurde die Diagnose erst mit 21 Jahren gestellt. Solche Erwachsene haben Taktiken entwickelt, ihre Schwierigkeiten zu kompensieren. Mazzon hat von seinem Bruder gelernt, Sarkasmus zu erkennen und sogar anzuwenden. Außerdem schafft er es mittlerweile, seinem Gegenüber während eines Gespräches in die Augen zu schauen. „Intuitiv werden solche erlernten Verhaltensweisen aber nie“, sagt Inge Kamp-Becker, Leitende Psychologin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Marburg. Doch trotz der Möglichkeit, sich den Erwartungen der Gesellschaft über die Jahre anzupassen, hatte die „Zeit ohne Diagnose“ auch viele Nachteile für Mazzon. Immer wieder kam es zu Problemen mit Lehrern und zu dem bedrückenden Gefühl, unverstanden zu sein, aber auch zu dem gegenteiligen Empfinden, als Einziger ein Problem erkannt zu haben.
“Autistische Personen leiden am meisten unter der sozialen Isolation, der sie ausgesetzt sind“, sagt Kai Vogeley, Leiter der Spezialambulanz für Autismus im Erwachsenenalter an der Uniklinik Köln. Einen Grund, warum das Asperger-Syndrom so schwierig zu diagnostizieren sei, sieht Vogeley in dem fließenden Übergang zwischen pathologisch und andersartig, aber noch nicht krankhaft sowie in den Kompensationsmechanismen, die gerade erwachsenen autistischen Personen möglich sind. „Häufig fallen Defizite überhaupt erst bei komplexen sozialen Anforderungen auf“, ergänzt Fritz Poustka, ehemaliger Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Frankfurter Uniklinik.