Autismus : Die Realität nach „Rain Man“
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Zwischen Tradition und Neubeginn: Die Diagnose Autismus wird überdacht, denn viele Patienten sind „ein bisschen autistisch“. Zentrale Kriterien müssen weiterhin erfüllt sein. Neu zugelassen werden Begleitdiagnosen.
Für Laien ist die Frage, worin die Krankheit Autismus besteht, seit dreiundzwanzig Jahren geklärt. Damals kam der Film „Rain Man“ in die Kinos, Dustin Hoffman verkörperte den erwachsenen Autisten Raymond, einen Mann mit phänomenalem Zahlengedächtnis. Seitdem ist das Bild, das große Teile der Bevölkerung vor Augen haben, wenn sie von Autismus hören, weitgehend festgelegt: Autisten sind demnach skurrile und tollpatschige Menschen, die mit einzelnen, großen Geistesgaben gesegnet sind. Ansonsten sind sie nicht in der Lage, selbständig zu leben, leicht erregbar und bisweilen stur und zwanghaft – dabei aber durchaus liebenswert.
Man hat sich eingerichtet in diesem Mainstream-Wissen aus dem Hollywood-Film – zumindest, wenn man selbst nicht zur Gemeinde der Ärzte und Psychologen gehört, die sich mit der Diagnose und Behandlung autistischer Störungen befassen. Für die Experten hatten die vergangenen zwei Jahrzehnte seit „Rain Man“ vor allem Erschütterungen, Zweifel und Umwälzungen zu bieten. Immer deutlicher wurde, dass die Diagnose Autismus sich nicht auf einzelne, klar umrissene Störungsbilder beziehen lässt, sondern für ein breites Spektrum verwendet werden muss. Unter diagnostizierten Autisten finden sich Kinder, bei denen die Sprachentwicklung völlig ausbleibt, ebenso wie Gymnasiasten mit starken Kontaktschwierigkeiten.
Eine Diagnose musste reichen
Zu allem Überfluss beanspruchen inzwischen wachsende Gruppen von Betroffenen, Autismus nicht als Krankheit zu betrachten, sondern als Lebens- oder Persönlichkeitsstil. All das trug dazu bei, den Begriff Autismus-Spektrum populär werden zu lassen. Im Jahr 2008 gründete sich in Deutschland schließlich die „Wissenschaftliche Gesellschaft Autismus-Spektrum“ (WGAS), die den Wechsel in der wissenschaftlichen Perspektive begleiten will. Auf den Tagungen der Gesellschaft versucht man eine Brücke zu schlagen zwischen Tradition und Neubeginn. Das bedeutet vor allem, neue Debatten zuzulassen. Welche das derzeit sind, ist unlängst in Berlin auf der diesjährigen Tagung der Gesellschaft deutlich geworden.
Zentrales Thema waren komorbide Störungen, also Krankheitsbilder, die zugleich mit dem Autismus auftreten. So entdecken Diagnostiker häufig hohe Impulsivität und Hyperaktivität bei autistischen Kindern. Zwei Diagnosen gleichzeitig zu stellen, also etwa das Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) neben einer autistischen Störung, lassen aber die diagnostischen Klassifikationssysteme und Gepflogenheiten bisher nicht zu. Ein Dilemma, aus dem nun ein Ausweg gesucht wird, indem man Studien anfertigt, in denen man Autisten und andere Patientengruppen – etwa ADHS- oder Schizophrenie-Patienten – miteinander vergleicht, vielfach mit Hilfe bildgebender Verfahren.