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„Klug entscheiden“-Bilanz : Ärzte gegen unnötige Leistungen

  • -Aktualisiert am

Welche Behandlung ist notwendig, welche ist überflüssig? Der Patient kann das kaum entscheiden. Bild: dapd

Die amerikanische Initiative „Choosing Wisely“ ist eine Initiative, unnötige medizinische Leistungen in den USA zu reduzieren. Jetzt liegt die kritische Zehn-Jahres-Bilanz vor. Wie sieht es in Deutschland aus?

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          Vor zehn Jahren wurde in den Vereinigten Staaten eine Initiative auf den Weg gebracht, die das ärztliche Gespräch über nutzlose Leistungen fördern soll. Sie trägt den Namen „Choosing Wisely“. Für diese Gespräche wurden Listen mit Maßnahmen erstellt, die aus Sicht der achtzig beteiligten Fachgesellschaften und auf Basis der verfügbaren Evidenz verzichtbar oder sogar schädlich sind – etwa Kinder mit unkomplizierten Infektionen der oberen Atemwege mit einem Antibiotikum zu behandeln. Die Bilanz, die Elizabeth J. Rourke vom Brigham and Women’s Hospital in Boston nach zehn Jahren zieht, ist ernüchternd. Rourke spricht als praktizierende Ärztin und Ausbilderin.

          In Deutschland gibt es seit sieben Jahren eine ähnliche Initiative mit dem Namen „Klug entscheiden“. Choosing Wisely müsse neu gedacht und neu erfunden werden, schreibt Rourke im „New England Journal of Medicine“. Es genüge nicht, nur Listen mit Empfehlungen zu veröffentlichen und darauf zu vertrauen, dass sie das ärztliche Gespräch fördern. Weil die Empfehlungen aus politischen Gründen keine Steilvorlage für die Kürzung von Leistungen sein sollten, gehe es in den USA auch nur um die Verbesserung des ärztlichen Gesprächs, nicht um die Beseitigung von Leistungen mit geringem Nutzen. Das mache die Initiative zu einem zahnlosen Tiger, weil nicht nachzuweisen sei, ob ein Gespräch stattgefunden habe.

          Auch die von Anfang an vorgetragene Kritik hält Rourke für nicht ausgeräumt. Der Initiative war vorgeworfen worden, dass viele Empfehlungen zulasten anderer Fachärzte gehen, sich auf Leistungen beziehen, die ohnehin kaum noch gemacht werden, und dass nichts auf den Listen steht, was den Ärzten wirklich finanziell schadet. Rourkes Fazit ist deutlich: „Choosing Wisely hat den Ärzten und medizinischen Fachgesellschaften erlaubt, so zu tun, als ob sie gegen Leistungen mit geringem Nutzen vorgehen würden, ohne tatsächlich gezwungen zu sein, etwas Substanzielles zu ändern.“

          „Jeder, der praktische Medizin macht, sieht, dass die Missstände weiter bestehen“

          Was heißt diese Kritik für die deutsche Initiative, die von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) getragen wird? Anders als in den USA steht in Deutschland nicht die Verbesserung des ärztlichen Gesprächs im Mittelpunkt, sondern die Verbesserung der Indikationsqualität. Es soll demnach einen legitimen und evidenzbasierten Grund für die Diagnostik oder Therapie geben. Deshalb werden in Deutschland Positiv- und Negativempfehlungen veröffentlicht – bisher 165 an der Zahl. „Wir sind jetzt an einem Punkt angekommen, an dem es keinen Sinn mehr ergibt, primär noch mehr Empfehlungen zu veröffentlichen“, sagt Sebastian Schellong, Medizinischer Direktor des Städtischen Klinikums Dresden und Vorsitzender der DGIM-Konsensus-Kommission für die Formulierung der Empfehlungen. „Wir müssen uns jetzt um die Implementierung kümmern.“ Schellong und seine Kollegen planen deshalb eine Befragung. „Uns interessiert, ob die Kolleginnen und Kollegen die Empfehlungen umsetzen. Und wenn nicht, was sie daran hindert und welche Maßnahmen ihnen am meisten einleuchten, damit die Umsetzung vorankommt“, so Schellong. „Jeder, der praktische Medizin macht, sieht, dass die Missstände weiter bestehen.“

          Die Schwierigkeiten bei der Implementierung verortet der Gefäßmediziner in den widersprüchlichen Interessen der treibenden Kräfte. Die Ärzte wollen nichts falsch machen, die Patienten wollen bestmöglich behandelt werden, und die Fehlanreize im Gesundheitssystem begünstigen nicht das ärztliche Gespräch, sondern Prozeduren. „Es geht um einen Kulturwandel“, sagt Schellong. „Ärzte müssen die Lust an sinnlosen Leistungen verlieren. Was wir als Fachgesellschaft tun können, ist, ihnen die Angst vor dem Staatsanwalt zu nehmen, sie zu motivieren, zu dem zu stehen, was sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, und sie dazu anzuhalten, ihren Alltag weg von den schnellen Prozeduren hin zu mehr Gesprächen zu verändern.“

          Wie lässt sich dieser Kulturwandel herbeiführen? Die DGIM setzt vor allem auf die studentische Lehre und arbeitet mit populären Lehrplattformen zusammen. „Wir sehen bei vielen jungen Kolleginnen und Kollegen, die vom Studium in die Facharztausbildung wechseln, eine Bewusstseinsänderung“, sagt Schellong, „aber wir brauchen auch eine politische Willensbildung, um die Fehlanreize im Gesundheitssystem zu beseitigen.“ In Deutschland steht zwar noch keine Zehnjahresbilanz an, aber auch die deutsche Initiative hat ihr Ziel noch lange nicht erreicht.

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