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Meine Tage in Igloolik

Text und Fotos von JAN KRAUS

8. November 2016 · Hoch im Norden Kanadas leben die Inuit, zerrissen zwischen Tradition und Moderne. Die Waljagd soll alte Tugenden wecken.

Der Ort am Ende der Welt heißt Igloolik. Nach 16 Stunden Flugzeit und viermal umsteigen bin ich endlich angekommen. Der Flughafen verdient den Namen kaum, er besteht nur aus einer Schotterpiste und einem Gebäude, das wie eine Raumstation aussieht. Bis zuletzt ging der Flug über nicht enden wollende Felslandschaften und kleine Seen. Man kann aus der Luft nachvollziehen, wie das Land in der jüngsten Eiszeit von gewaltigen Gletschern geformt wurde.

© F.A.Z.

Igloolik liegt auf 69 Grad Nord 81 Grad West im arktischen Norden von Kanada. Die Temperatur beträgt im Jahresmittel minus zwanzig Grad. Schwer vorstellbar, dass in dieser Ödnis seit mindestens 4500 Jahren Menschen leben. Die ersten Vorfahren der Inuit kamen über die Beringstraße nach Alaska und breiteten sich in mehreren Siedlungswellen bis nach Grönland aus. Es gelang ihnen, sich an die schwierigen Umstände anzupassen. Erst durch die Ankunft der modernen Zivilisation in Form von Handelsposten und katholischen Missionaren hat sich ihr Lebensstil grundlegend verändert. Nicht zum Besseren, finden viele.

Ich bin auf Einladung von Zacharias Kunuk hier. Zacharias ist Regisseur und in Igloolik ein Held. Sein Film „Atanarjuat – Die Legende vom schnellen Läufer“ hat 2001 bei den Filmfestspielen in Cannes eine Goldene Kamera gewonnen. Jetzt arbeitet er an einer neuen Dokumentation. Sie soll eine traditionelle Waljagd zeigen. Zum ersten Mal seit vierzehn Jahren hat Igloolik in diesem Jahr eine Lizenz zur Tötung eines Grönlandwals erhalten. Die Waljagd ist in Kanada streng reguliert, wenn überhaupt, darf sie nur durch Angehörige der indigenen Bevölkerung durchgeführt werden. Sie soll den Zusammenhalt stärken und eine kulturelle Identität fördern, die in der Vergangenheit schwer beeinträchtigt wurde. Für die ausgewählten Gemeinden ist das keine Selbstverständlichkeit, denn die Kosten für Verpflegung, Ausrüstung und Benzin müssen sie selber aufbringen. Von den knapp zweitausend Bewohnern Iglooliks haben bisher überhaupt nur fünf Personen an einer Waljagd teilgenommen.

Die Vorfahren der heutigen Inuit haben schon vor Generationen bestimmte Orte festgelegt und benannt, die als Ausgangspunkte für die Jagd im ewigen Eis dienen. Der Punkt, der etwa zwanzig Kilometer entfernt am östlichen Ende der Insel liegt, trägt den klangvollen Namen Kikitarjuk. Hier war bis zur erzwungenen Sesshaftigkeit der Inuit in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Sommerlager. Das Packeis ist von dort schnell zu erreichen. Bereits wenige Tage nach meiner Ankunft am 21. Juli beginnen die Vorbereitungen. Am 8. August wird das Lager bezogen. Eine Woche später ist es zu einer kleinen Zeltstadt geworden. Die Jäger bringen ihren gesamten Hausstand inklusive Großfamilie mit. Vom Kleinkind bis zum Greis haben sich alle versammelt. Fischnetze werden ausgelegt, der Müll und die Knochen von früheren Camps weggeräumt und Holzgestelle zum Trocknen von Fischen aufgestellt.

Der Sommer ist kurz, aber umso spektakulärer. Dann bleiben selbst die Nächte hell.

Die Waljagd beginnt am Tag darauf mit zwei Wochen Verspätung. Bereits im Vorfeld sollte ein Fachmann eingeflogen werden, um die Jäger im Umgang mit dem speziellen Walgewehr zu schulen. Doch wegen des schlechten Wetters konnte kein Flugzeug landen. Die Waffe wurde in Norwegen entwickelt und ist im Grunde ein kleiner Granatwerfer, dessen Auslöser ein an einer Metallverlängerung angebrachter orangener Gummipfropf ist. Der Harpunier muss den Gummipfropfen fest auf die Haut des Wals pressen, dadurch wird ein handgroßes Projektil ausgelöst und durch eine Treibladung in den Wal geschossen. Mit einer Verzögerung von vier Sekunden und damit genug Zeit, um das Boot auf Abstand zu bringen, explodiert die Granate und soll den Wal auf der Stelle töten.

Die Crew der Waljäger besteht aus knapp zwei Dutzend Männern und zwei Frauen. Das jüngste Mitglied ist der 16-jährige Daniel Ataguttaluk, das älteste weiß sein Alter nicht genau, ist sich aber ziemlich sicher, über achtzig zu sein. Ein Komitee hat die Zusammensetzung in Absprache mit der kanadischen „Hunters and Trappers Organization“ so gewählt, dass gleichzeitig junge und unerfahrene wie erfahrene Jäger zum Einsatz kommen. So soll traditionelles Wissen weitergegeben werden. Die Inuit glauben, dass jeden Jäger eine bestimmte Aura umgibt und dass die gejagten Tiere spüren, wer sie jagt und zu welchem Zweck.

Am Morgen des 16. August wird es plötzlich hektisch. Alle warten gespannt auf die Ansage des Kapitäns. Der kurzen Ansprache folgt ein Gebet. Es ist das „Vaterunser“. Bis Anfang der achtziger Jahre war Igloolik in einen katholischen und einen anglikanischen Teil gespalten. Es gab sich bekriegende Jugendgangs, und an Heirat zwischen den Konfessionen war nicht zu denken. Anfang der Neunziger wurden Fälle von Missbrauch bekannt. Ein pädophiler Priester wurde 2015 in 32 Fällen schuldig gesprochen und sitzt jetzt eine lange Haftstrafe ab.

Nach dem Gebet geht es in die Boote. Die Regierung hat vorgeschrieben, dass alle Teilnehmer der Waljagd für den Fall, dass jemand über Bord geht, Überlebensanzüge tragen. Die Wassertemperatur in der Arktis beträgt zu dieser Jahreszeit gewöhnlich um die null Grad Celsius. Eine trainierte Person kann bei solchen Temperaturen maximal dreißig Minuten überleben. Die Anzüge verlängern diese Zeit, sie schwimmen von allein an der Oberfläche und sind dank ihrer signalroten Farbe weithin sichtbar.

Alt und Jung nehmen voller Erwartung an der Waljagt teil.

Die Boote der Jäger tragen Namen wie „Silver Dolphin“, keines ist länger als sechs Meter. Ein ausgewachsener Grönlandwal kann dreimal so lang werden und bis zu hundert Tonnen wiegen. Grönlandwale werden an die zweihundert Jahre alt und sind an das Leben im Arktischen Ozean bestens angepasst. Unter ihrer vier bis acht Zentimeter dicken Haut liegt eine bis zu sechzig Zentimeter dicke Fettschicht, die gegen die Eiseskälte isoliert. Der Schädel nimmt ein Drittel des Körpers ein und kann eine Eisdecke von einem halben Meter durchstoßen. Nach Schätzungen des WWF gibt es noch rund 20 000 Grönlandwale, von denen neunzig Prozent in kanadischen Gewässern leben. 2010 wurde auf der Ostseite von Baffin Island auf mehr als 300 000 Hektar das weltweit erste Naturschutzgebiet für Grönlandwale geschaffen. Bedroht sind sie nach wie vor durch kommerzielle Jagd, durch seismische Unterwassertests zur Ortung von Rohstoffen und nicht zuletzt immer stärker durch den Klimawandel.

Schon kurze Zeit nachdem wir die Bucht verlassen haben, verlieren wir den Sichtkontakt zu den übrigen sieben Booten. Fortan halten wir über Funk Verbindung. Wie gebannt blicken wir aufsWasser. Alle hoffen auf eine bis zu drei Meter hoheWasserfontäne, das Markenzeichen des Grönlandwals. Für Stunden starre ich auf den Ozean. Doch nichts passiert. Die Jagd wird für heute abgeblasen. Zurück im Lager gibt es Instantkaffee und Zigaretten.

Es regnet die ganze Nacht, auch der Wind nimmt zu. Die nächsten zwei Tage bessert sich das Wetter kaum. Südwinde können für Wochen anhalten und es nahezu unmöglich machen, mit den Booten hinauszufahren. Die Jäger nutzen die Tage, um ihre Ausrüstung zu überprüfen. Dennoch zerrt das Warten an den Nerven, und die Moral sinkt. Wir beschließen, zurück nach Igloolik zu fahren, um Proviant zu kaufen, auch eine warme Dusche steht auf dem Programm.

Am nächsten Tag fahren wir auf der Schotterpiste zurück Richtung Camp, als das Funkgerät ertönt. Zacharias Kunuk tritt aufs Gas. Die Jäger wollen aufbrechen, entgegen allen Erwartungen hat der Wind nachgelassen. Wir sind noch gut eine Stunde entfernt. Als wir ankommen, sind die Waljäger bereits weg. In Rekordzeit verstauen wir alles im Boot, preschen keine zwanzig Minuten später hinterher. Plötzlich hören wir über Funk „Ablow“ und wieder „Ablow“. Es braucht etwas, bis ich realisiere, was gemeint ist: „a blow“, das Ausblasen eines Wals.

Wie aus dem Nichts taucht in einiger Entfernung ein Boot, dann ein zweites auf. Die Jäger kommen direkt auf uns zu. In hundert Meter Entfernung steigt eine Fontäne empor. Da taucht erst ein Wal, dann ein zweiter aus der Tiefe auf. Der Anblick der Tiere ist so majestätisch, dass mir der Gedanke kommt, lieber mit ihnen tauchen zu wollen. Aber das ist nicht Sinn und Zweck dieses Unterfangens. Die Inuit sind ein Volk von Jägern, und das seit Jahrtausenden. Ein einziger Grönlandwal konnte einer Großfamilie das Überleben für ein Jahr sichern. Von der Haut bis zu den Knochen wurde alles restlos verwendet.

Die einzige Waffe des Grönlandwals ist seine mächtige Schwanzflosse. Die Beute wird mit Harpunen markiert, an denen Schwimmbojen hängen.

Die Jäger haben sich inzwischen für einen der Wale entschieden. Alles geht jetzt wahnsinnig schnell, von jedem der sechs Boote werden Harpunen geworfen. Sie sind mit Bojen verbunden, deren Auftrieb den Wal müde machen soll, wenn er abtaucht. Aber dieser Wal taucht nicht ab. Langsam bilden die Booten um ihn herum einen Kreis. Er schlägt mit seiner gewaltigen Schwanzflosse um sich. Aber keines der Boote wird getroffen. Dean, der Erste Harpunier, hat das Walgewehr und ist bereit, dem Tier den Todesstoß zu versetzen. Allerdings muss er dazu noch näher heran. Das Gesichtsfeld der Wale hat einen blinden Fleck, man nähert sich ihnen am besten von hinten in einem Winkel von dreißig Grad. Der nächste Anlauf glückt: Deans Boot kann sich positionieren, der Harpunier stößt den Gummipfropf des Gewehrs auf den Hinterkopf, die Granate wird abgeschossen. Das Boot entfernt sich wieder. Die Sekunden ziehen sich. Unvermittelt tönt ein lauter, sehr dumpfer Schlag, und eine Druckwelle erfasst selbst unser Boot, das in einiger Entfernung einen größeren Sicherheitsabstand hält. Der Wal ist sofort tot. Das alles hat keine zwanzig Minuten gedauert.

Die Jäger sind außer sich vor Freude. Sie zücken Smartphones und machen Fotos und Videos. Dean steigt vom Boot auf den Wal und ballt seine Fäuste gen Himmel. Ich springe von Boot zu Boot, mache Fotos und umarme einen nach dem anderen. Dean nimmt ein Samurai- Schwert in die Hand und beginnt, ein Stück Maktaaq aus dem Wal zu schneiden. „Maktaaq“ nennt man die Haut und darunterliegende weiße Fettschicht des Wals. Was früher dank der hohen Konzentration an Vitamin C eine lebensnotwendige Vitaminquelle war, gilt heute als Delikatesse.

Dann ist Eile geboten. Der Wal muss zum Abschleppen vorbereitet werden. In einigen Stunden würde er anfangen zu sinken. Der riesige Körper wird mit einer langen Leine an den Seitenflossen, dann am gewaltigen Kiefer und an vier Booten vertäut. Der Rückweg dauert mehr als sieben Stunden. Immer wieder werden Salutschüsse abgefeuert. Rote Leuchtraketen funkeln am Himmel.

Kaum an Land, wird das Fleisch des Wals zerteilt. Jedes Mitglied der Gemeinde bekommt ein Stück. Am Schluss sind auch die Knochen verschwunden, sie werden traditionell zu Schnitzereien verarbeitet.

Um 1.30 Uhr in der Nacht wird der Wal angelandet. Erst als ihn der Schaufellader an Land zieht, wird seine volle Größe ersichtlich. Es handelt sich um ein 8,50 Meter großes Weibchen. Mehrere Jäger schneiden große Stücke aus dem Tier. Bis in die frühen Morgenstunden sind Hunderte von Bewohnern am Werk und zerteilen Maktaaq und Fleisch.

Nur 36 Stunden nachdem der Wal gelandet wurde, ist alles Fleisch verteilt. Drei Tage später sind auch die Knochen verschwunden. Aus ihnen sollen Schnitzereien entstehen. Über Radio und Facebook wird zu einer großen Feier in die Gemeindehalle geladen. Igloolik ist stolz auf sich.

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Quelle: F.A.S.

Veröffentlicht: 09.11.2016 16:00 Uhr