Sprachanalyse : Unbestimmte Infinitive
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Viel Text, wenig Inhalt? Bild: Frank Röth
Ein italienischer Wissenschaftler hat Computern Berichte der Weltbank zu lesen gegeben. Für Menschen ist die Lektüre aber eher nichts. Denn es steht immer weniger Konkretes drin.
Wer mit Zahlen arbeitet, weiß die Hilfe des Computers zu schätzen. Alles, was übers Addieren und Subtrahieren hinausgeht, überlässt man ihm gern. Bei der Arbeit mit Texten bleibt der Nutzen des Computers dagegen meist begrenzt: Texte lassen sich speichern und durchsuchen, teilweise auch automatisch übersetzen; aber mit dem Lesen und Schreiben tun sich Computer nach wie vor schwer. Doch auch in diesen Bereichen tut sich etwas: Algorithmen werden entwickelt, um Gebrauchs- und Nachrichtentexte aus Vorlagen zu erstellen. Und die quantitative Analyse von Texten hat sich als „Digital Humanities“ einen Platz im Methodenarsenal der Literaturwissenschaft erobert.
Als einer der bekanntesten Vertreter dieses Ansatzes gilt Franco Moretti von der Stanford University. Mit Hilfe quantitativer Analysen hat er unter anderem gezeigt, dass das blutige Finale von Shakespeares Hamlet mit den Beziehungen unter den Figuren zusammenhängt: Alle Personen, die sowohl mit Hamlet als auch mit Claudius Kontakt hatten, sterben am Ende.
In einer anderen Arbeit untersuchte er Detektivromane des 19. Jahrhunderts und erkannte den Grund für die nachhaltige Popularität Arthur Conan Doyles darin, dass dieser die „clues“ seiner Geschichten so setzte, dass sie für die Leser verständlich und für die Auflösung notwendig waren - eine Formel, auf die andere nicht gekommen waren.
Shakespeare-Kenner reagieren verschnupft
Ein wesentliches Argument für die quantitative Analyse ist für Moretti, dass ein Wissenschaftler ohne derartige technische Unterstützung niemals die historische oder zeitgenössische Literatur überblicken könnte. Die intime Kenntnis von ein paar hundert Werken reiche nicht aus, um langfristige Trends und globale Entwicklungen zu entschlüsseln. Nicht nur in der Literaturwissenschaft ist diese Auffassung umstritten. Shakespeare-Kenner reagieren verständlicherweise verschnupft, wenn ihr Gegenstand auf ein paar Netzwerkstrukturen reduziert wird.
Diese Gefahr besteht bei Morettis neuestem Projekt eher nicht. Zusammen mit seinem Koautor Dominique Pestre wendet er die quantitative linguistische Methode auf eine Textgattung an, die deutlich weniger Anhänger oder gar Bewunderer hat: die Berichte internationaler Organisationen. Anhand der jährlichen Berichte der Weltbank aus den Jahren 1946 bis 2012 analysieren Moretti und Pestre, wie sich in diesem Zeitraum die Vorstellungen von Entwicklungshilfe verändert haben.
Auf den ersten Blick, auf der Ebene der Häufigkeit einzelner Wörter, zeigt sich Kontinuität: Es geht um die „Bank“, um „Kredite“ und um „Entwicklung“; in zweiter Linie um „Länder“, „Investitionen“, „Zinsen“, „Programme“ und „Projekte“. Doch bei genauerem Hinsehen änderte sich die Sprache der Weltbank vor allem in den 1990er Jahren. Während zunächst die wirtschaftlichen Aktivitäten dieser Institution und die gewissenhafte Datenerhebung und Beratung am häufigsten erwähnt wurden, rücken in den 1990er Jahren drei neue „semantische Cluster“ in den Vordergrund: Finanzen, Management und Governance.
Immer weniger konkrete Ergebnisse
Das heißt: Konkrete Ziele werden immer weniger mit daraus abgeleiteten, beispielsweise infrastrukturellen Maßnahmen verknüpft, sondern mit abstrakten Instrumenten. So wird Armutsbekämpfung nicht mit Einkommen, Bevölkerungspolitik und Nahrung assoziiert, sondern mit Strategien, Ansätzen, Fokusse und Bezugswerken. Das Zauberwort „Governance“ taucht schließlich genauso häufig auf wie „Nahrung“ und hundertmal so oft wie „Politik“. Die Sprache der Weltbank, so Moretti und Pestre, wird auf diese Weise abstrakter. Sie bedient sich zunehmend eines „technischen Codes“.
Grammatikalisch schlägt sich diese Bewegung „weg vom Konkreten“ nieder im Anstieg der Nominalisierungen. Statt von Akteuren, die handeln oder zusammenarbeiten, ist immer öfter die Rede von „Handlung“ und „Kooperation“. Nicht Länder, die miteinander kooperieren, werden gefördert, sondern die Kooperation. Die Berichte werden damit zu „metaphysischen Dokumenten“, deren Protagonisten nicht mehr wirtschaftliche Akteure, sondern allgemeine Prinzipien sind.
Doch nicht nur die Handelnden, sondern auch die Zeitstrukturen geraten den Weltbank-Berichten zunehmend aus dem Blick: Temporaladverbien wie „jetzt“, „später“ oder „bald“ werden immer seltener benutzt. Es finden sich immer weniger konkrete Ergebnisse und abgeschlossene Handlungen in der Zeitform der Vergangenheit, dafür immer mehr unspezifische Infinitive: „Wissen teilen“ und „Governance verbessern“ verweisen auf eine Wirklichkeit, die sich beständig ändert, aber keine konkrete Zukunft hat - „all change, and no future“, resümieren die Autoren.
Man könnte die Ergebnisse der Analyse auch so zusammenfassen: Die Berichte der Weltbank machen den Eindruck, als würden sie zunehmend unter Verzicht auf empirische Anschauung aus Versatzstücken des internationalen Managementdiskurses komponiert. Eigentlich könnte man das Verfassen solcher Berichte also getrost den Maschinen überlassen.
Moretti, Franco; Pestre, Dominique (2015): Bankspeak. The language of World Bank Reports. In: New Left Review (92), S. 75-99.