Risikowahrnehmung : Wir lassen die Angst entscheiden
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Nach Flugzeugabstürzen steigen die Menschen um aufs Auto - und verursachen dadurch Staus und Unfälle. Autofahrernationen wie die Deutschen sind besonders gefährdet. Risikoforscher hoffen, dass irrationale Ängste durch Kommunikationsstrategien aufzufangen sind.
Auch ohne schockierende Abstürze wie den von Flug 4U9525 in Südfrankreich machen die Deutschen sich beim Fliegen große Sorgen: Mehr als zwanzig Prozent, zeigten Umfragen des Allensbach-Instituts, fühlen sich auf Flügen unbehaglich. Experten für Risikowahrnehmung erwarten, dass ein Flugzeugunglück wie das der Germanwings-Maschine die Ängste der Deutschen noch einmal gravierend steigern wird. Die Erfahrung aus anderen Flugzeugabstürzen zeigt, dass viele Menschen anschließend ihr Verhalten ändern und etwa statt des Flugzeugs andere Verkehrsmittel wählen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stieg die Bevölkerung beispielsweise verstärkt vom Flugzeug auf das vermeintlich sicherere Auto um. In den zwölf Monaten nach dem 11. September 2001 gab es deshalb schätzungsweise 1600 mehr unfallbedingte Todesfälle auf amerikanischen Straßen, als statistisch zu erwarten gewesen wäre.
Das galt allerdings nicht für alle Bundesstaaten gleich. Gerd Gigerenzer und Wolfgang Gaissmaier vom Berliner Harding-Zentrum für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zeigten vor zwei Jahren in der Fachzeitschrift „Psychological Science“, dass der Autoverkehr insbesondere in der Nähe von New York zugenommen hatte. Offenbar war die Angst besonders präsent für Menschen, die in der Nähe des Anschlagsortes wohnten.
Aber auch im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten stieg das Verkehrsaufkommen an. Die Autoren schließen, dass die Kultur und bestehende Verhältnisse solche angstgetriebenen Entscheidungen beeinflussen. Im Mittleren Westen etwa war die Infrastruktur besonders gut geeignet, Fliegen durch Autofahren zu ersetzen. Die Straßen waren gut ausgebaut, und es waren viele Autos gemeldet.
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Autofahrernationen gefährdet?
Die Spanier hingegen sind nach den Zuganschlägen in Madrid am 11. März 2004 zwar weniger Zug gefahren, es gab jedoch keinen Anstieg an Autofahrten. Gigerenzer und Gaissmaier schreiben in ihrer Studie, dass Spanien eine weniger ausgeprägte Kultur des Autofahrens hat, was sich auch in Zahlen ausdrücken lässt: Während es in den Vereinigten Staaten im Jahr 2001 auf jeweils tausend Einwohner bezogen etwa 800 registrierte Autos gab, waren es in Spanien im Jahr 2004 nur knapp 600 Autos.
Die „Autofahrernation“ Deutschland könnte also ebenso gefährdet sein wie manche Regionen Amerikas, in denen es eine starke Kultur des Autofahrens gibt. „Wenn die Menschen aber jetzt das Fliegen vermeiden, kommen sie vom Regen in die Traufe“, sagt der Risikoforscher Gigerenzer. Presse und Politik sollten seiner Ansicht nach an die Bevölkerung appellieren, sich vernünftig zu verhalten und nicht das größere Risiko der weiten Autofahrten auf sich zu nehmen, um Flüge zu umgehen. „Man muss sich vor Augen halten, dass bei dem Flugzeugunglück 150 Menschen gestorben sind, aber auf Deutschlands Straßen auch innerhalb von zwei Wochen 150 Menschen sterben.“
„Schockrisiken“ wirken stark
Dass es den Menschen in Deutschland jetzt schwer fällt, das geringere Risiko von Flügen realistisch wahrzunehmen, liegt Gigerenzer zufolge an der enormen Wirkung von „Schockrisiken“. Als Schockrisiko bezeichnet man es, wenn viele Menschen gleichzeitig zu einem Zeitpunkt sterben, wie es bei Flugzeugkatastrophen der Fall ist. „Dann wird besondere Angst bei denjenigen ausgelöst, die davon erfahren“, sagt Gigerenzer. Die starke Reaktion der Politiker, die zur Unglücksstelle reisen, sei zwar angemessen, könne die Ängste der Menschen aber noch verstärken.