Immunsystem von Tiefseefischen : Bis dass der Tod sie scheidet
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Ein weiblicher Schwarzangler-Fisch, Melanocetus johnsonii, der etwa sieben Zentimeter misst. Das nicht einmal zweieinhalb Zentimeter lange Männchen haftet am Bauch des Weibchens. Bild: Edith A. Widder
Tiefsee-Anglerfische stellen möglicherweise die Grundfesten der Immunabwehr in Frage: Um sich zu paaren, verschmelzen sie ihre Körper und verzichten so auf einen wichtigen Teil des Immunsystems.
Tiefsee-Anglerfische haben es schwer, in den lichtlosen Bereichen der Ozeane einen Sexualpartner zu finden. Einige Arten lösen dieses Problem, indem sich die winzigen Männchen dauerhaft mit den sehr viel größeren Weibchen verbinden, nachdem sie ein Weibchen gefunden haben. Die Verbindung geht so weit, dass sich die beiden Geschlechter am Ende sogar ein Blutgefäßsystem teilen und die Männchen vollständig auf die Weibchen angewiesen sind. Oft hängen sogar mehrere Männchen an einem Weibchen. Eine derart enge Verbindung kennt man sonst nur noch von siamesischen Zwillingen, die allerdings genetisch identisch sind. Das ist bei den männlichen und weiblichen Tiefsee-Anglerfischen nicht der Fall. Sie besitzen verschiedene Genome. Deshalb müsste es bei einer derart innigen Verbindung eigentlich zu einer Abstoßungsreaktion kommen – ähnlich wie bei einer Organtransplantation.
Warum die Abstoßung unterbleibt und welche Anpassungen im Immunsystem der Fische nötig waren, damit eine solche Verbindung dauerhaft zustande kommt, beschäftigt die Forscher seit gut hundert Jahren. 1920 war erstmals ein fest verbundenes Paar gefunden worden. Es hatte sich im Netz isländischer Fischer verfangen. Die Lösung der Anglerfische, die nun ein deutsches Forscherteam aufgedeckt hat, ist eine handfeste Überraschung. Thomas Boehm vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg und Theodore Pietsch von der Universität von Washington in Seattle und ihre Kollegen zeigen in der neuesten Ausgabe von „Science“, dass die Anglerfische vollständig auf die erworbene Immunabwehr verzichten. Sie bezahlen ihren Fortpflanzungserfolg in den Weiten der Tiefsee also mit einer radikalen Zäsur im Immunsystem.
Statt auf ein zweiarmiges System aus angeborener und erworbener Immunabwehr zu setzen, wie das alle anderen Wirbeltiere tun, verlassen sie sich nur noch auf ihr angeborenes Immunsystem. Tiefsee-Anglerfische, die eine dauerhafte Verbindung der Geschlechter eingehen, bilden also keine maßgeschneiderten Antikörper mehr. Sie verzichten auf spezifische Killer-T-Zellen, mit denen infizierte Zellen beseitigt und fremdes Gewebe attackiert werden und haben keine breitgefächerten MHC-Moleküle mehr, die Alarm schlagen, wenn sie etwas Fremdes entdeckt haben.
„Bei uns würde ein solcher Verlust an immunologischer Ausrüstung sofort zu einer fatalen Immunschwäche führen“, kommentiert Boehm die Ergebnisse. Was den Tiefsee-Anglerfischen nach dieser radikalen Zäsur bleibt, ist ihr angeborenes System – eine Wachmannschaft aus unspezifischen Fress- und Immunzellen, die nicht bei jedem Angriff passend nachgeschliffen und molekular verfeinert werden, wie das bei der erworbenen Immunabwehr der Fall ist.
Nicht alle der gut 160 Tiefsee-Anglerfischarten haben diesen radikalen Schnitt im Immunsystem vollzogen. Unter den 168 bekannten Arten gibt es auch solche, die noch Reste eines erworbenen Immunsystems besitzen. Es sind jene Arten, bei denen sich die Geschlechter nur für die Zeit des Geschlechtsakts verbinden und sich danach wieder trennen. Diesen Arten fehlen zum Beispiel die spezifischen Antikörper. Am radikalsten ist die Zäsur bei den Arten, bei denen sich mehrere Männchen gleichzeitig und dauerhaft mit einem einzigen Weibchen verbinden. Die Wissenschaftler konnten zudem zeigen, dass diese Anpassungen während der Evolution mehrmals und unabhängig voneinander entwickelt worden sind. Dabei scheint die temporäre Verbindung der Geschlechter, und damit der weniger radikale Einschnitt ins Immunsystem, die ursprünglichere Form zu sein.
Tiefsee-Anglerfische vor hundert Millionen Jahren entstanden
Die Ergebnisse von Boehm und seinen Kollegen sind aber auch von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie ein zentrales Dogma der Immunologie in Frage stellen. Dieses Dogma besagt, dass das angeborene und das erworbene Immunsystem nicht mehr ohne katastrophale Folgen entkoppelt werden können. Die lange, beiderseitige Ko-Evolution verbiete eine solche Entflechtung, so die Begründung. „Wegen dieses Dogmas hatten wir zunächst ganz andere Erklärungen für die fehlende Abstoßung im Blick“, sagt Boehm. „Etwa, dass Tiefsee-Anglerfische riechen, welches Weibchen immunologisch zu ihnen passt und welches nicht. Sie hätten dann den Abgleich der Gewebemerkmale, wie er auch bei einer Organtransplantation erfolgt, mit ihrer Nase gemacht. Das ist aber definitiv nicht der Fall.“
Wie unerwartet diese Entflechtung tatsächlich ist, zeigt auch der Blick auf die Zeitachse. Wirbeltiere sind vor 500 Millionen Jahren entstanden, Tiefsee-Anglerfische vor hundert Millionen Jahren. Den Tiefsee-Anglerfischen ist es also nach 400 Millionen Jahren Ko-Evolution von angeborener und erworbener Immunabwehr gelungen, beide Systeme zu trennen und das angeborene Immunsystem derart aufzuwerten, dass sie damit allein zurechtkommen. „Wir müssen jetzt einfach noch viel besser verstehen, wie das möglich gewesen ist“, sagt Boehm, „denn dann können wir vielleicht auch versuchen, Patienten mit Immundefekten durch eine Stärkung der angeborenen Immunabwehr zu helfen.“
Die Wissenschaftler gründen ihre Schlussfolgerungen auf Genomanalysen, also auf der An- oder Abwesenheit der nötigen Gene. Dafür haben sie das Erbgut von 31 Individuen untersucht, die zu verschiedenen Arten von Tiefsee-Anglerfischen gehören. Gemacht wurden die Analysen mit tiefgefrorenem Material, weil die Wissenschaftler keinen Zugang zu frischen Tiefsee-Anglerfischen hatten. Darin liegt eine Schwäche ihrer Arbeit. Um zu zeigen, dass das angeborene Immunsystem tatsächlich den Verlust des anderen Arms vollständig kompensiert, müssten sie zeigen, mit welcher Ausstattung die Immunzellen der Tiefsee-Anglerfische antreten. Das geht aber nur mit einer RNA-Analyse, bei der die aktuellen Kopiervorlagen für die Synthese der immunologisch wirksamen Proteine unter die Lupe genommen werden. Dazu braucht man aber frisches Gewebematerial, weil RNA nicht so beständig ist wie DNA. Boehms Team hofft, dass man diese Untersuchungen in naher Zukunft nachholen kann.