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Gedächtnisforschung : Auf der Suche nach der Madeleine-Region

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Wußte, daß „aus meiner Tasse Tee” Erinnerung strömen kann: Marcel Proust

Wußte, daß „aus meiner Tasse Tee” Erinnerung strömen kann: Marcel Proust Bild: dpa/Ullstein

Schon lange suchen Hirnforscher nach den Grundlagen unseres Gedächtnisses. Jetzt zeigt eine neue Studie, wie eng Erinnerung und Geruchssinn miteinander verknüpft sind - ganz so, wie Marcel Proust es vor neunzig Jahren beschrieben hat.

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          Schon die Erinnerung an die Lektüre löst Verzückung aus. Der Geschmack eines in Lindenblütentee getunkten Gebäckstücks namens "Petite Madeleine" diente Marcel Proust in seinem Jahrhundertroman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" als Schlüssel zur Vergangenheit. Kaum zergeht das Gebäck auf seiner Zunge, überströmt den Erzähler Marcel ein unerhörtes Glücksgefühl: "Mit einem Mal war die Erinnerung da." Vor seinem geistigen Auge steigen Stadt und Gärten von Combray auf, "aus meiner Tasse Tee".

          Wie ist so etwas möglich? Generationen von Gedächtnisforschern hat die berühmte Romanszene inspiriert. Sie rätselten, wie unser Gehirn persönliche Erlebnisse speichert und wiederauferstehen läßt. Minutiös hat Proust den Zugang zum "unermeßlichen Gebäude der Erinnerung" beschrieben und einige seiner Regeln enthüllt: Nicht etwa der Anblick des Gebäcks vermag den Prozeß in Gang zu setzen, heißt es im Roman, sondern erst die Sekunde, da der mit "Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte".

          Geheimnissuche im Kernspintomographen

          Episodisches oder auch autobiographisches Gedächtnis nennen Forscher heute jene Fähigkeit des Romanhelden, einmal erlebte Szenen anhand winziger plötzlicher Hinweise auch Jahre später im Geiste wiederauferstehen zu lassen. Eine Reise in dieses bisher tief im Hirn verborgene Reich der Erinnerungen haben britische Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Neuron“ unternommen. Dafür legten sich 20 Freiwillige in einen jener unbequemen Kernspintomographen, die Forschern heute dank starker Magnetfelder Aufnahmen des sich erinnernden Gehirns erlauben.
          Bei dem Gedächtnistest konfrontierte Jay Gottfried vom University College in London seine Versuchsteilnehmer zunächst für zehn Sekunden mit einem als angenehm empfundenen Duft - etwa Rosenwasser. Wenige Sekunden später sahen die Probanden dann jeweils ein Bild: mal einen Helm, dann einen Ball oder eine Holztruhe. Ihre Aufgabe bestand nun darin, sich innerhalb der nächsten Sekunden eine kleine Geschichte auszudenken, die etwa Rosenduft und Helm kreativ miteinander verknüpfte. So assoziierte ein Teilnehmer, wie er beim Rugby im Garten mit einem Helm bewaffnet in einen Rosenbusch fällt.

          Danach kam der nächste Geruch, ein neues Bild und eine weitere erdachte Kurzgeschichte - das Versuchsziel war in dieser Phase stets die willkürliche Herstellung von Erinnerungsinhalten. Erst nach einer Lernphase mit rund 130 verschiedenen Bildern und 9 wechselnden Gerüchen begann der eigentliche Gedächtnistest. Hierzu vermischte Gottfried alte Bilder mit neuen. Die Versuchspersonen sollten sich erinnern, welche Bilder ihnen schon bekannt erschienen - was Menschen in der Regel sehr gut gelingt.

          Leuchten im piriformen Cortex

          Das überraschende Ergebnis: Wann immer Teilnehmer ein ihnen vertrautes Bild erkannten, leuchtete im Scanner auch jener Hirnbereich auf, in dem eigentlich Gerüche repräsentiert sind. Und das, obwohl es während der Testphase nichts mehr zu riechen gab. "Wenn sie ein bekanntes Bild wiedererkennen, wird im Gehirn zugleich auch der Geruchsanteil der Erinnerung wiedererweckt", erklärt Gottfried den neuen Befund.

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