Soziologie : Die Leiden der Impressionisten
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Auf dem Weg zur Fernsehübertragung ihrer öffentlichen Hinrichtung: Ambitionierte Kandidaten bei Deutschland sucht den Superstar Bild: dpa
In einer Konkurrenzgesellschaft leben heißt, entweder zu den Gewinnern oder den Verlierern zu zählen. Es gilt, Eindruck zu machen – und mit dessen Folgen fertig zu werden.
Der Soziologe Alfred Vierkandt hat einmal vom „Impressionismus“ als spezifisch moderner Lebensform gesprochen. Gemeint war: Wer es im Berufsleben zu etwas bringen will, der muss die Aufmerksamkeit anderer auf sich lenken, andernfalls bleibt er unbemerkt. Auf alle mutmaßlich einflussreichen Personen muss er einen günstigen Eindruck machen.
Vor allem muss er sich selbst davon überzeugt zeigen, auch die nächstanspruchsvollere Position jederzeit ausfüllen zu können – und zwar besser als die Stelle, die er derzeit innehat und die ihn, offen gesagt, ein wenig unterfordert. Vierkandt sieht darin nur das Unwürdige: dass alle zu Angebern und Selbstvermarktern erzogen werden.
Der Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern
Diese Charakterisierung einer „Konkurrenzgesellschaft“ ist deshalb unzureichend, weil sie die Konkurrenten nur als solche erfasst, ohne sich um den Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern zu kümmern. Der Impressionismus aber besagt für Gewinner etwas anderes als für Verlierer. Wem es durch selbstbewusstes Auftreten gelungen ist, eine attraktive Stelle zu bekommen, der findet sich ebendadurch an ein hohes Anspruchsniveau gefesselt.
Er mag das eigene Talent und die eigene Arbeitswilligkeit stark übertrieben haben, aber auch diese Übertreibung verpflichtet ihn zur Fortsetzung. So gerät der Erfolgreiche unter den Zwang, das zu werden, was er zuvor vielleicht nur vorgegeben hatte zu sein. Man kann also sagen, dass der Impressionismus nicht nur, wie vielfach moniert, zu Fehlbesetzungen führt, sondern auch ein gewisses Korrektiv bietet, und wenn man so will, dann liegt hierin die soziologische Zweitfassung des Satzes: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand.
Anders sieht es für den Verlierer aus. Sein Problem liegt nicht darin, dass er die Stelle nicht bekommen hat, sondern dass er auch danach noch mit dem Anspruch auf sie identifiziert ist, ähnlich wie er sich ja von der Stelle, auf der er nunmehr ausharren muss, bereits distanziert hatte. Um sich an den Verlust anzupassen, muss er sich also von Teilen seiner dargestellten Identität lösen. Wie Soziologen wissen, gelingen solche anspruchsvollen Lernleistungen nur dann, wenn andere sie unterstützen. Der amerikanische Soziologe Erving Goffman hat denn auch verschiedene Arten unterschieden, den Versager, wie er es nennt, auszukühlen. Dieses Wort haben übrigens Trickbetrüger geprägt, um den therapeutischen Beistand zu bezeichnen, den sie ihren Opfern angedeihen lassen, damit diese nicht etwa Lärm schlagen oder sich mit unabsehbaren Folgen an Dritte wenden.
Schuld an Unglück auf Umstände schieben, für die er nichts kann
Die erste und gebräuchlichste Auskühlung besteht darin, dem Verlierer eine offensichtlich fiktive Umdeutung seiner Vergangenheit abzunehmen. Es wird ihm zum Beispiel gestattet, das große Interesse an der Beförderung im Rückblick zu dementieren, um stattdessen auf all die Nachteile zu verweisen, die ein etwaiger Erfolg mit sich gebracht hätte. Die Mitteilung, dass er darin dem Fuchs ähnelt, der die unerreichbaren Trauben für zu sauer erklärt, wird ihm erspart.
Auch ist es ihm gestattet, die Schuld an seinem Unglück auf Umstände zu schieben, für die er nichts kann: von der schlechten Tagesform am Prüfungstag bis zur Voreingenommenheit der Juroren. Nach dieser zweiten Umdeutung kann er dann sagen, dass er sich beim nächsten Versuch bessere Chancen ausrechnet, und auch darin wird er durch den Takt seiner Mitmenschen bestärkt. Eine ähnliche Form kunstvoller Zurechnungsverschiebung liegt vor, wenn die Entlassung ranghoher Mitglieder so kommuniziert wird, als hätten sie von sich aus gekündigt.
Es verliert sich leichter, wenn man für unreif gilt
Goffmans Text aus dem Jahre 1952 hat klassischen Rang. Eine der jüngsten Publikationen, die sich auf ihn berufen, hat sich mit jenen amerikanischen Talentwettbewerben befasst, nach deren Vorbild man auch in Deutschland den Superstar sucht. Es handelt sich offenbar um eine Serienproduktion von Verlierern und insofern um ein sehr gut gewähltes Thema. An eine größere Zahl von Sängern, die gleich in der ersten Runde ausschieden, erging die Frage, wie sie sich ihr Los erklären, und unter den Antworten fanden sich einige von denen, die auch Goffman auf seiner Liste hatte, und keine anderen: Man mache sich große Hoffnungen auf den nächsten Versuch, und dies vor allem deshalb, weil man nicht ganz auf der Höhe war.
Außerdem trage die Jury offenbar keinerlei Bedenken, gelegentlich auch Barden von der Publikumswirkung eines Troubadix passieren zu lassen, da die Fernsehübertragung ihrer öffentlichen Hinrichtung ein gerngesehener Teil des Programms sei.
Wenn gerade die jungen Verlierer so gefasst reagieren, dann sicher auch deshalb, weil die Jugend, wie auch Goffman schon sah, unter besonderen Schonbedingungen antritt. Es ist ihr erlaubt, mit Engagements zu experimentieren, Berufsausbildungen abzubrechen oder Studienfächer zu wechseln, ohne von der vollen Verantwortung für Misserfolge getroffen zu werden. Es verliert sich also leichter, wenn man für unreif gilt.