Der Code des „Clásico“
Von MARTINA KELLER08.04.2017 · Fußball ist unberechenbar. Ein Team kann dreimal so viele Chancen herausspielen wie das andere – und verliert am Ende doch. Jetzt wollen Informatiker dem Fußball den Zufall austreiben, mit Hilfe der 3,1 Millionen Positionen, die in jedem Spiel erhoben werden. Wird ihnen das gelingen? Was macht das mit dem Sport, den die Fans so lieben? Wird Fußball zum Rasenschach? Wir analysieren den deutschen „Clásico“ – die Partie Dortmund gegen Bayern.
Software gewinnt Spiele – oder nicht?
Mehmet Scholl kriegte sich gar nicht mehr ein vor Ärger über den Chefscout der deutschen Fußball-Nationalelf. Der Herr Siegenthaler solle doch morgens liegen bleiben und die anderen trainieren lassen, tobte der ARD-Experte nach dem epischen Elfmeterschießen im Viertelfinale der Europameisterschaft gegen Italien. Siegenthaler habe den Bundestrainer dazu gebracht, seine Taktik an die der Italiener anzupassen. Wenn es nach Scholl gegangen wäre, hätte Löw besser auf die eigene Offensivstärke und seine gewachsene Mannschaft vertraut. Taktische Anpassung an den Gegner sei schon bei drei früheren Turnieren für Niederlagen des deutschen Teams in K.O.-Spielen verantwortlich gewesen.
Der Ex-Bayernprofi und Ex-Nationalspieler Scholl, Besitzer einer Fußballlehrerlizenz, ist kein Freund komplizierter Matchpläne. Er schimpft gern auf „Laptop-Trainer“ und die Mode, „jemanden nur nach den Daten zu beurteilen“. Jede Hausfrau habe inzwischen gelernt, zwischen einem 4-4-2 und einem 3-5-2-System zu unterscheiden, aber ohne Menschen könne man die ganze Taktik vergessen. „Fußball“, sagte Scholl dem Spiegel, „ist ein einfaches Spiel, und damit es die Menschen verstehen, muss es einfach bleiben“.
Dieser Wunsch des Experten wird wohl nicht erhört werden. Die digitale Revolution hat den Fußball erreicht. Mehr als 65 Millionen Positionsdaten lässt die Deutsche Fußball Liga an einem einzigen Spielwochenende in Bundesliga und zweiter Liga erfassen. Pro Saison werden 500.000 Pässe dokumentiert, außerdem 6.000 Ecken, 150.000 Zweikämpfe und 17.000 Torschüsse. Selbst Werte der Schiedsrichter werden dokumentiert – Zugang dazu haben aber nur sie selbst. Die übrigen Daten werden gegen Bezahlung an zahlreiche Abnehmer geliefert, etwa an Sponsoren, TV-, Print- oder Online-Medien. Insbesondere sollen aber die Clubs beider Ligen davon profitieren – sie bekommen die Daten kostenlos.
Um den Wust an Informationen zu speichern, hat die Deutsche Fußball Liga in Köln eine eigene Datenbank errichtet. Sie besteht aus zwei Rechenzentren und 16 Servern und speichert pro Spieltag etwa ein Terabyte Live-Daten. Wollte man solche Datenmassen auf Papier ausdrucken, käme man auf 250 Millionen Schreibmaschinenseiten – ein Papierstapel von 25 Kilometern Höhe.
Aber was fängt man mit all den Daten an? Was sagen sie aus?
Im Halbfinale der Europameisterschaft lief das deutsche Team fünf Kilometer mehr als Gegner Frankreich und spielte mehr als doppelt so viele Pässe. Die Deutschen probierten einmal öfter, ein Tor zu erzielen, holten eine Ecke mehr heraus, kamen auf starke 65 Prozent Ballbesitz – und verloren am Ende doch mit 0:2. Nicht mal zu Unrecht: Denn es fehlte dem Team an Zielstrebigkeit und Tempo. Die Aufbauspieler passten viel quer und zurück, und Frankreichs Stürmerstar Antoine Griezmann alleine war gefährlicher als die gesamte deutsche Offensive.
Dennoch setzt manch kluger Kopf auf Daten. Zum Beispiel Stefan Reinartz, langjähriger Profi bei Bayer Leverkusen, Ex-Nationalspieler, Mathematik Leistungskurs im Abitur. Holger Stanislawski dagegen hält den Mehrwert der Daten für begrenzt. Der ehemalige Profi und Trainer von St. Pauli leitet heute einen Supermarkt in Hamburg – und arbeitet als Fußball-Experte für das ZDF.
Wer hat Recht – Reinartz oder Stanislawski? Die Antwort ist kompliziert. Abwehrmann Reinartz, der seine Karriere 2016 wegen vieler Verletzungen mit nur 27 Jahren beendete, ist keineswegs ein naiver Statistik-Fan – im Gegenteil. Schon während seiner aktiven Zeit ärgerte er sich darüber, wie wenig herkömmliche Daten über die Qualität eines Spielers aussagen. Ein Beispiel? Bayerns Nationalspieler Mats Hummels, ein Innenverteidiger von Weltklasse, sei zu Dortmunder Zeiten mitunter auf eine schlechtere Passquote gekommen als sein Nebenmann Neven Subotic. Dabei ist Hummels nach Reinartz’ Überzeugung der klar bessere Aufbauspieler. Doch für die Passquote zählen eben riskante Pässe genauso wie Ballgeschiebe in der eigenen Spielhälfte.
Zusammen mit seinem damaligen Leverkusener Teamkollegen Jens Hegeler machte sich Reinartz daran, eine Statistik zu entwickeln, die auch die Qualität von Pässen berücksichtigte, nicht nur die pure Menge. Als Parameter definierte er die Zahl der durch einen Pass aus dem Spiel genommenen Gegenspieler – denn je weniger Kontrahenten sich einem Angreifer noch entgegenstellen können, umso größer die Chance auf ein Tor. „Wir haben uns mit Zettel und Stift vor ein Videobild gesetzt und immer brav stopp gedruckt, wenn ein Spieler an den Ball gekommen ist“, sagt Reinartz. 20 Stunden habe es gedauert, ein einziges Spiel zu analysieren. Der Aufwand hat sich gelohnt: „Es waren 74 überspielte Gegner im Schnitt pro Spiel bei Hummels und 26 bei Subotic.“ Für Reinartz ein eindrucksvoller Beleg der These, dass Hummels der bessere Passgeber sei. Er taufte seinen Ansatz Packing.
Packing-König Toni Kroos
Reinartz und Hegeler haben ihren Packing-Ansatz weiterentwickelt. Statt der anfänglichen Strichlisten und Excel-Tabellen kommt heute eine halbautomatische Software zum Einsatz; analysiert wird nicht nur die Passqualität einzelner Spieler, sondern ganzer Mannschaften; neue Kennzahlen ergänzen den ursprünglichen Packingwert. Zum Beispiel wird auch die Zahl der aus dem Spiel genommenen Gegner als Passempfänger berechnet. Dahinter steckt die Überlegung, dass ein Mats Hummels für sein Spiel in die Tiefe Abnehmer braucht, Spieler wie Thomas Müller oder Arjen Robben, die freie Räume erkennen und einen zugespielten Ball behaupten können. Gelungene Offensivaktionen werden somit dem Passempfänger ebenso gut geschrieben wie dem Passgeber.
Seit der Europameisterschaft in Frankreich geht der Begriff Packing selbst dem Datenskeptiker Mehmet Scholl locker über die Lippen, schon weil sein Arbeitgeber ARD für das Turnier einen Exklusivvertrag mit Reinartz’ Start-up-Firma Impect geschlossen hatte. Die Moderatoren und Experten der ARD bekamen die plakativsten Kennzahlen bei Livespielen ins Studio übermittelt. Der Verlauf der Europameisterschaft scheint für die Aussagekraft der Packingmethode zu sprechen: In 94 Prozent der Fälle habe die Mannschaft gewonnen oder zumindest unentschieden gespielt, die mehr Verteidiger überspielte als der Gegner, sagt Impect. Sogar das Halbfinale Frankreich gegen Deutschland, dessen Ausgang zu anderen Statistiken nicht recht passen will, fand nach der Packing-Methode ein logisches Ende – Frankreich überspielte mehr gegnerische Verteidiger als die deutsche Elf.
Die Welt des Fußballs ist komplex geworden, Spitzenteams beschäftigen ein halbes Dutzend Spielanalysten oder mehr. Den von Scholl geschmähten Laptoptrainern à la Thomas Tuchel oder Julian Nagelsmann gehört die Zukunft, Pragmatiker wie Armin Veh, Thomas Schaaf oder Felix Magath sind in der Bundesliga kaum noch gefragt. Dabei ist es erst ein Vierteljahrhundert her, dass ein Mann die deutsche A-Nationalelf coachte, der nie eine Trainerlizenz erworben hat. Franz Beckenbauer schickte das deutsche Team 1990 mit den Worten „Geht‘s raus und spielt‘s Fußball“ in das Weltmeisterschaftsfinale gegen Argentinien. Die elf besten Spieler sollten es irgendwie richten.
Als fortschrittlich denkende Assistenztrainer in der Steinzeit der Fußballspielanalyse noch mit zwei Videorecordern vorm Fernseher hantierten, um wichtige Szenen herauszuschneiden, hatten andere Sportarten den Nutzen einer präzisen Datenanalyse längst für sich entdeckt. Die Experten im Handball, Hockey oder Basketball haben es aber auch leichter: das Spielfeld ist kleiner, die Anzahl der Spieler geringer, die Menge der taktischen Varianten überschaubar. Auch American Football oder Baseball sind längst nicht so dynamisch und unberechenbar wie Fußball – Standardsituation reiht sich an Standardsituation.
So konnte der ehemalige Baseballprofi Billy Beane mit den Oakland Athletics eine Geschichte schreiben, die zum Hollywoodstoff wurde. Als Beane Ende der 1990er Jahre General Manager des Clubs war, nutzte er neuartige Statistiken, um preiswerte, jedoch talentierte Spieler zu finden. Mit ihnen formte er „The A’s“, wie die Underdogs aus Oakland genannt werden, zu einer Topmannschaft der amerikanischen Baseballliga: Achtmal erreichten sie bis heute die Playoffs, obwohl ihr Budget unter dem der meisten Konkurrenten liegt. Das Baseball-Wunder wurde unter dem Titel „Moneyball“ mit Brad Pitt in der Hauptrolle verfilmt.
Seit 2015 versucht sich Beane auch als Berater des holländischen Erstligisten AZ Alkmaar – und stellt vermutlich gerade fest, dass es im Fußball schwieriger ist, den Erfolg zu planen.
Doch die Spielanalysten haben Hoffnung, Christofer Clemens zum Beispiel: Er ist Kollege von Jogi Löws Chefscout Urs Siegenthaler, dem ARD-Experte Scholl bei der Europameisterschaft am liebsten Berufsverbot erteilt hätte. Der Mittvierziger aus Bochum leitet die Abteilung Scouting und Spielanalyse beim Deutschen Fußball-Bund und zählt zu den Pionieren auf dem Gebiet. Wenn Clemens nicht gerade damit beschäftigt ist, Dutzende Spiele der deutschen Nationalelf zu analysieren, forscht er für den Deutschen Fußball-Bund in den Stadien der Welt nach neuen Trends. Die Software der ersten Datenanalysen half er bei der Firma Mastercoach zu entwickeln. Clemens ist davon überzeugt, dass der digitalen Analyse die Zukunft gehört – dank der neuen Daten, die im Auftrag der Deutschen Fußball Liga erst seit der Saison 2011/2012 offiziell erhoben werden.
Robert Bosch Stiftung und Reporter-Forum e.V. haben dieses Projekt im Rahmen der Masterclass „Zukunft des Wissenschaftsjournalismus“ gefördert.
Die Datenjäger: Tracken und Checken
Ein Mittwochabend im Kölner Qualitätszentrum der Firma ChyronHego. Michael Schoedder sitzt vor neun Bildschirmen und lässt die Augen von einem zum anderen wandern. Schoedder leitet die Qualitätskontrolle bei dem Sportdienstleister mit Hauptsitz in New York. Am letzten Bundesligaspieltag 2016 betreut er drei Spiele gleichzeitig, zusammen mit den Trackingoperatoren der Firma in den Stadien. Noch sind „seine“ Partien in Hoffenheim, Köln und München nicht angepfiffen. Noch ist Zeit, die Multikamerasysteme unter den Stadiondächern ein letztes Mal zu kalibrieren – so auszurichten, dass sie das gesamte Spielfeld exakt erfassen. Schoedder steuert die Kalibrierung von Köln aus – über eine spezielle Software und den Bildschirm.
Jeweils sechs Kameras sind unter den Dächern auf zwei Boxen verteilt, die je nach Stadiongröße in sechs bis zwölf Meter Abstand voneinander aufgehängt sind. Sie liefern ganz andere Bilder als etwa die ARD-Sportschau. Statt in Nahaufnahme auf die Spieler zu zoomen, zeichnen sie stets alle 22 Akteure und den Ball zugleich auf. Über ein Glasfaserkabel werden diese Bilder an einen zentralen Rechner gesendet. Dank einer speziellen Bildverarbeitung lässt sich die Position jedes Spielers auf dem Platz und des Balls zu jeder Sekunde erfassen. Bei 5400 Sekunden pro Partie, 22 Fußballern plus Spielgerät und 25 Kamerabildern pro Sekunde kommt man auf 3,1 Millionen Positionen. ChyronHego ermittelt daraus Laufwege und Laufleistung, erfasst das Tempo der Akteure.
In den Stadien machen sich jetzt auch die Trackingoperatoren bereit. Je drei sitzen während einer Partie auf der Pressetribüne, auf stets denselben, für sie reservierten Plätzen. Cris Renckstorf macht den Job seit vier Jahren. „In dem Moment, wo die Spieler das Spielfeld betreten, ist bei uns Alarmbereitschaft“, sagt der angehende Lehrer für Sozialwissenschaften und Englisch. Auf seinem Laptop erscheinen dann die Spieler als Kreise. Jedem Kreis ordnet Renckstorf die korrekte Rückennummer und Farbe zu. Fahnenträger, Trommler oder sonstige Störfaktoren klickt er weg.
Trackingoperatoren: Bei Torjubel unter Strom
Die Trackingoperatoren müssen ihre Mannschaften gut kennen, Renckstorf zum Beispiel ist Spezialist für Schalke 04 und den VFL Bochum, kann die Stammspieler schon an den Bewegungen identifizieren. Schon vor Spielbeginn erarbeitet er die Taktik, in der „sein“ Team vermutlich spielen wird. Auch die Ersatzbank muss der Operator im Blick haben, nicht selten überraschen Trainer noch kurz vor dem Anpfiff mit Veränderungen in der Aufstellung. Wenn Renckstorf die Gastmannschaft trackt, muss er sich besonders sorgfältig vorbereiten, weil er den Kader in der Regel weniger gut kennt. Am Spieltag ist je ein Operator für ein Team zuständig, der dritte Mann kümmert sich um die Balldaten.
Anpfiff in Hoffenheim, Köln und München. Schoedder im Kölner Qualitätszentrum muss jetzt mehreres zugleich im Auge behalten: Auf einem Bildschirm betreut er den Chat mit der Deutschen Fußball Liga, in deren Datenbank die Millionen von Rohdaten des Spieltags am Ende gespeichert werden. Ein weiterer Schirm zeigt ihm Informationen zum Spiel Hoffenheim gegen Bremen – die live getrackten Spieler, die taktische Aufstellung beider Mannschaften, das Panoramabild der Multikamerasysteme. In der gleichen Anordnung wird ihm im nächsten Bild das Spiel Köln gegen Leverkusen präsentiert. Auf noch einem Screen hat er jederzeit die Möglichkeit, die Übertragung im Fernsehen anzuschauen – oder den Mitschnitt zurückzuspulen.
Einer der neun Bildschirme wird gerade nicht genutzt, kommt aber immer dann zum Einsatz, wenn es Fehler zu korrigieren gilt. In unübersichtlichen Spielsituationen, etwa nach einer Ecke oder einem Freistoß, kann es vorkommen, dass das Computersystem Zuordnungen vertauscht. Aus Hoffenheims Amiri wird zum Beispiel dessen Mittelfeldkollege Demirbay – und ein Topsprint von mehr als 33 Stundenkilometern womöglich dem falschen Spieler gut geschrieben. Die Trackingoperatoren in den Stadien müssen die Vertauschung so schnell wie möglich rückgängig machen und die alte Zuordnung wieder herstellen.
Aber auch die Männer in Köln sind in so einem Fall gefragt. Schon die Life-Daten gilt es in möglichst hoher Qualität zu erfassen. Zum Beispiel sind die während der Partie erhobenen Laufwerte der Spieler nahezu identisch mit denen, die nach Überarbeitung in der Datenbank gespeichert werden. Das liegt auch an einer speziell von ChyronHego entwickelten Software. Mit einem Programm namens T-Scrub können die Mitarbeiter falsch aufgezeichnete Daten noch während des Spiels korrigieren und überschreiben. Das geht so schnell, dass es niemand mitbekommt.
Nicht nur in Köln ist an diesem Abend Hochbetrieb – sondern auch im Computerraum der Firma Perform in Unterföhrung bei München. Hier wird der zweite Teil der offiziellen Spieldaten erfasst, die sogenannten Spielereignisdaten. Was darunter zu verstehen ist, hat die Deutsche Fußball Liga in einem fast 100 Seiten starken Katalog definiert. Würde man sehr grob, sehr oberflächlich, sehr flüchtig zusammenfassen, um was es geht, dann könnte man sagen, es handele sich bei Spielereignisdaten um Zuspiele, Flanken, Torschüsse, Befreiungsschläge, Balleroberungen, Zweikämpfe, Fouls, Eckstöße, Freistöße, Einwürfe, Strafstöße, Abseitsentscheidungen…
Aber das wäre wirklich eine grobe Vereinfachung.
In Wirklichkeit wird jedes Ereignis weitaus differenzierter erfasst – wer, wann, was, wo, wie, wohin, mit welchem Ergebnis. Rund 1000 Spielereignisse werden pro Team in jeder Begegnung dokumentiert, mal mehr, mal weniger. Dabei spielt es keine große Rolle, ob die Perform-Analysten in Unterföhring sitzen oder für eine Profi-Liga in Lateinamerika arbeiten. Die internationalen Vorgaben sind ähnlich penibel wie die der Deutschen Fußball Liga. Aber hören Sie selbst, wie Perform-Mitarbeiter Andreas Hermle zum Beispiel einen fehl gegangenen Torschuss dokumentiert:
Das alles erfassen Analysten live in Sekundenschnelle, mit Hilfe von Kurzbefehlen, die sie vermutlich sogar im Schlaf beherrschen. Besonders anspruchsvoll: den Ort einer Aktion auf einem virtuellen Spielfeld zu markieren. Über dem Fernsehbild, das der Analyst auf seinem PC sieht, liegt die Grafik des Spielfelds mit den bekannten Markierungen. Der Analyst muss nun bei jedem Spielereignis auch den Ausgangs- und Endpunkt einer Aktion anklicken, zum Beispiel von wo auf dem Feld wohin geflankt wurde. Bis ein neuer Mitarbeiter auf diese Art Hochleistungs-Multitasking trainiert ist, dauert es 30 bis 40 Stunden.
An einem Abend wie diesem, wenn fünf Begegnungen angesetzt sind, arbeiten 23 Mitarbeiter der Abteilung Data Collection im Computerraum, drei Supervisoren plus pro Partie zwei Analysten, einer für jedes Team, und zwei sogenannte Checker, die wichtige und fragliche Eingaben noch mal prüfen. Wenn ein Analyst beispielsweise unsicher ist, welcher Spieler wo auf dem Feld einen Zweikampf gewonnen hat, kennzeichnet er diese Situation mit einem Fähnchen – und der Checker schaut sich das Ganze noch einmal an.
Halbzeitpause in den Stadien. Michael Schoedder in Köln nutzt die Zeit für einen Chat mit einem der Trackingoperatoren – telefonieren wäre bei dem Krach in den Stadion schwer möglich. Vielleicht ist ja ein Neustart der Kameras nötig? Das erledigt der Operator über einen Schlüsselschalter an seinem Arbeitsplatz. Außerdem sucht Schoedder mit einer speziellen Software nach Sprüngen in den Daten – Hinweise auf mögliche Fehler. Manches fällt auch mit bloßem Auge auf. Wenn der Laufweg eines Torhüters anzeigt, dass er sich öfter auf Höhe des Mittelkreises aufhielt, dürfte da was nicht stimmen – falls der Mann nicht Manuel Neuer heißt.
Datenprüfer: Neun Bildschirme im Blick
Nach dem Abpfiff beginnt die Nachbearbeitung. Bei den Datensammlern in Ismaning wie auch in Köln. Frische Mitarbeiter gehen im Qualitätszentrum das gesamte Spiel noch einmal durch, um die letzten Fehler zu korrigieren. Je nach Spielverlauf dauert dieser Prozess vier bis acht Stunden. Danach stellt die Deutsche Fußball Liga die korrigierten Rohdaten in das sogenannte Clubportal ein, auf das alle Vereine der ersten und zweiten Liga Zugriff haben.
In Zukunft werden sich die Clubs allerdings kaum mehr mit schlichten Angaben zu Laufleistungen und Ballbesitz begnügen, mit denen Reporter Fernsehzuschauer unterhalten, wenn auf dem Platz gerade nichts los ist. „Es gibt klar eine Tendenz, dass man versucht anhand der Positionsdaten taktische Muster zu erkennen“, sagt ChyronHego-Projektmanager Christian Kochs, der als Ansprechpartner für die Analysten und Athletiktrainer der Clubs fungiert. Gefragt seien auch Kennzahlen, die die Leistung eines Spielers qualitativ bewerten, etwa wie viele Pässe er unter Druck erfolgreich angenommen hat. „Da muss man vorher definieren, was mit Druck gemeint ist, und dann die entsprechenden Algorithmen entwickeln.“ Eine einheitliche Lösung für alle Clubs werde es kaum geben. Jeder Verein habe seine eigene Philosophie. „Da muss man sehr individuell arbeiten.“
Für ChyronHego ist die Weiterentwicklung der Rohdaten ein spannendes Forschungsgebiet, in dem sich aber auch andere tummeln – Sportdienstleister, Wirtschaftsunternehmen, Wissenschaftlerteams, und nicht zuletzt Clubs und Verbände.
Robert Bosch Stiftung und Reporter-Forum e.V. haben dieses Projekt im Rahmen der Masterclass „Zukunft des Wissenschaftsjournalismus“ gefördert.
BVB-Bayern: Code geknackt
Die Dortmunder Süd ist lange vor dem Anpfiff in Stimmung, das Stadion ausverkauft. 81.360 Fans fiebern dem Spiel ihrer Borussia gegen die Bayern entgegen: Acht amtierende Weltmeister laufen auf, zudem die beiden überragenden Stürmer der laufenden und der Vorsaison – und einige alte Bekannte. Die Münchener Mats Hummels und Robert Lewandowski waren mal bei Dortmund, Mario Götze immerhin ist aus München dorthin zurückgekehrt …
Die Partie im November 2016 ist nicht irgendein Spitzenspiel. Sie wird in mehr als 200 Länder übertragen, gilt als der deutsche „Clásico”. Die beiden Rivalen aus Bayern und dem Pott dominieren die Bundesliga wie Barcelona und Real Madrid die spanische Primera División – seit 1994 wurden nur vier andere Teams auch mal Deutscher Meister.
Vor dem Spiel allerdings steht RB Leipzig an der Tabellenspitze, die Bayern sind zweiter, können mit einem Sieg wieder an dem Aufsteiger vorbeiziehen. Schlägt Dortmund die Münchener, verkürzen sie den Abstand auf den Rekordmeister auf drei Punkte.
Es ist auch das Duell zweier unterschiedlicher Trainertypen: Thomas Tuchel ist Perfektionist, Taktiktüftler, Guardiola-Epigone, wissenschaftsaffin. Titel im Profifußball hat er noch nicht gewonnen, aber das soll sich ändern. Carlo Ancelotti gilt als ein Trainer der alten Schule, übermäßige taktische Variabilität sagt man ihm nicht nach, aber ein gutes Gespür für seine Spieler. Ancelotti gewann mit dem AC Mailand und Real Madrid dreimal die Champions League.
Wie schicken die so unterschiedlichen Trainer ihre Mannschaften ins Spiel? Wir haben einen Experten gebeten, uns bei der Analyse zu unterstützen. Alexander Schmalhofer war zu aktiven Zeiten Innenverteidiger beim Regionalligisten TSV Buchbach, die Mitspieler nannten ihn wegen seines überlegten Spiels „Kaiser“. Mit nur 27 wurde Schmalhofer Spielanalyst beim Drittligisten Spielvereinigung Unterhaching. Heute ist der promovierte Sportwissenschaftler Dozent am Institut für Fußballmanagement in Ismaning. Außerdem coacht er den ZDF-Experten Oliver Kahn vor Champions-League-Spielen – und leitet ab April 2017 die Abteilung Spielanalyse & Innovationsprojekte beim österreichischen Erstligisten RB Salzburg.
Dass Ancelotti sein Team im 4-3-3 beginnen lässt ist das Übliche, seitdem Guardiola die Bayern verlassen hat. Tuchel dagegen hat sich etwas Besonderes einfallen lassen. Drei Innenverteidiger und zwei Außenverteidigern bilden beim BVB die Fünferkette, auch der sogenannte Sechser Julian Weigl zählt noch zum Defensivverbund. Da bleiben für die Offensivabteilung nur zwei Mittelfeldspieler und die Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang und Adrian Ramos.
Eine mutige Aufstellung, sagen die einen, wegen der Doppelspitze. Man kann das aber auch anders sehen: Gegen die spielstarken Bayern gibt Tuchel von vornherein das Mittelfeld auf.
Was lässt sich sonst über die Spielweise der beiden Kontrahenten sagen? Wie haben Sie angegriffen, wie verteidigt? Analysten der Clubs würden sich für eine Antwort stundenlang über die Videobilder auf ihrem Laptop beugen. Unser Experte geht einen anderen Weg.
Kleine Fußball-Lehre
Beim Positionsangriff attackiert das Team in Ballbesitz sehr strukturiert die geordnete Defensive des Gegners. Das Ziel ist es, durch viele, flache Pässe eine Lücke zu finden.Beim Schnellangriff steht die gegnerische Defensive ebenfalls geordnet. Allerdings setzt die attackierende Mannschaft auf vertikale, raumübergreifende Pässe. Die Strategie ist risikoreicher, Ballverluste aber einkalkuliert. Durch aggressives Nachsetzen, das Spiel auf den zweiten Ball, hoffen die Angreifer die gegnerische Defensive in Unordnung zu bringen.
Der Konter ist definiert als eine sogenannte Umschaltsituation: Nach einer Balleroberung spielen die Angreifer schnell in die Tiefe, gegen eine noch ungeordnete Defensive.
Das Analysewerkzeug von Schmalhofer ermöglicht Längsschnittanalysen, denn eine einzelne Partie spiegelt die typische Spielweise eines Teams nur bedingt wieder. Dortmund spielt normalerweise offensiver, setzt mehr auf Ballbesitz, spielt mehr Positionsangriffe als im „Clásico“ am elften Spieltag der Saison 2016/2017. Will ein Trainer sein Team auf die Borussia vorbereiten, kann er die Angriffsweisen des Teams in fünf, acht oder zwölf Spielen per Mausklick aus den Daten analysieren. Jede Spielsituation ist außerdem mit einem Timecode versehen und kann im Video angeschaut werden. Darüber hinaus hat Schmalhofer mit seinen Mitarbeitern eine Art animierte Taktiktafel programmiert, die spannende Spielszenen aus der Vogelperspektive darstellt.
Julian Weigl ist der zentrale Mann im Spielaufbau der Dortmunder. In der laufenden Saison spielt er durchschnittlich rund 70 Pässe pro Partie – Kurzeinsätze mit gerechnet. Im Spiel gegen die Bayern sind es deutlich weniger. Ancelottis Plan, den Dortmunder Zielspieler zuzustellen, scheint aufgegangen:
Die Schlüsselszene des Spiels ereignet sich bereits in der elften Minute: Götze kommt rechts im Strafraum an den Ball, und schiebt ihn durch die Beine von Mats Hummels zu Aubameyang, der sich frei vor Manuel Neuer ganz lang macht ...
Mario Götze macht in dieser Partie sein bislang wohl bestes Spiel für Dortmund. Im offensiven Mittelfeld bietet er sich immer wieder für Anspiele zwischen den Ketten der Bayern an, aber auch defensiv arbeitet er mit. „Er hat mir sehr gut gefallen, weil er wahnsinnig fleißig war“, wird Trainer Tuchel nach dem Spiel über ihn sagen.
Dortmund habe Atlético-Stil gespielt, sagt BVB-Sportdirektor Michael Zorc nach der Partie. Er meint damit, dass die Borussia defensiv ähnlich effektiv war wie üblicherweise der Club aus Madrid. Gegen den Dortmunder Riegel findet der FC Bayern zumindest in dieser Partie kein Rezept, obwohl Stürmerstar Robert Lewandowski gegen die alten Kollegen so einiges versucht.
Manches Element im Dortmunder Spiel erinnert an den Heavy-Metal-Stil der Borussia unter Jürgen Klopp. Gelernt ist eben gelernt.
Am Ende bejubeln die Dortmunder ihren ersten Sieg gegen die Bayern in der Bundesliga seit vier Jahren. Viele Kritiker loben Trainer Tuchel für seine taktische Raffinesse, andere finden, der BVB habe unter Niveau gespielt – das Team kommt auf eine Ballbesitzquote wie sonst eher der Tablellenletzte Darmstadt.
Die Bayern finden sich nach der Niederlage auf dem ungewohnten zweiten Tabellenplatz wieder. Ancelotti habe keinen Plan, mäkeln Reporter, ihm fehle eine Spielidee. Mittlerweile sind die Kritiker verstummt – und die Bayern wieder fast so dominant wie zu Guardiolas Zeiten. In der Bundesliga führen sie überlegen vor den Verfolgern aus Leipzig, Hoffenheim und Dortmund. Sie schießen mehr als zwei Tore pro Liga-Spiel und haben die mit Abstand beste Abwehr. Arsenal London fegten sie im Hin- und Rückspiel der Champions League mit insgesamt 10:2 Toren weg und qualifizierten sich locker für das Viertelfinale gegen Real Madrid. Das Halbfinale im DFB-Pokal, gegen Dortmund, haben sie ebenfalls erreicht. Der nächste „Clásico“ am 8. April 2017 kann kommen …
Robert Bosch Stiftung und Reporter-Forum e.V. haben dieses Projekt im Rahmen der Masterclass „Zukunft des Wissenschaftsjournalismus“ gefördert.
Algorithmen: Muster erkennen und Räume ausloten
Die Positionsdaten im Fußball sind ein Schatz, den auch andere Wissenschaftler für die Deutsche Fußball Liga heben wollen. Der Mainzer Forscher Jürgen Perl und sein Kölner Kollege Daniel Memmert beschränken sich nicht darauf, charakteristische Spielweisen zu beschreiben. Sie suchen nach Faktoren, die den Erfolg im Fußball wahrscheinlicher machen.
Perl, Begründer der deutschen Sportinformatik, hat schon vor Jahren bewiesen, dass sich der Verlauf eines Spiels durch kluge Taktik beeinflussen lässt. Er startete sein Experiment allerdings im Badminton. Zwei Spieler deutlich unterschiedlicher Stärke standen sich gegenüber. Der erste Satz ging klar an den besseren. Für den zweiten Satz gab Perl dem schwächeren Spieler eine Taktik an die Hand, die er aufgrund der Stärken und Schwächen beider Kontrahenten entwickelt hatte. Daraufhin gestaltete der Mann den Satz ausgeglichen. Im dritten Satz erhielt auch der stärkere Spieler Perls taktischen Rat – der alte Abstand war wiederhergestellt.
So einfach geht es im Fußball nicht, schon weil 22 und nicht zwei Akteure auf dem Platz stehen; und schon weil dieser Platz etwa 100mal so groß ist wie ein Badminton-Feld. Doch Perl, Jahrgang 1944, liebt die Herausforderung. Er hat auch schon mal die Produktionsabläufe in einer Hightech-Brauerei geplant und Besucherströme an Flughäfen analysiert. Er optimierte die Bewegungsabläufe von Leistungsruderern und berechnet für Läufer die perfekte Renneinteilung beim Marathon. Aktuell entwickelt er eine Software, die helfen soll, die Fördergelder für deutsche Spitzensportler besser zu verteilen. Künftig will er dem Fußball ein Stück seiner Unberechenbarkeit austreiben, was allerdings ähnlich schwierig ist, wie das Wetter korrekt vorherzusagen.
Perl und Memmert nutzen für ihre Analysen zum Beispiel einen Ansatz aus der Geometrie. Mit Hilfe der sogenannten Voronoi-Zellen kann man Räume in spezielle Sektoren aufteilen. Diese erlauben Aussagen über die Raumkontrolle im Fußball – eine Voraussetzung dafür, dass ein Pass tatsächlich ankommt. Marco Reus etwa kontrolliert genau den Raum, den er schneller als jeder Gegner erreichen kann – optisch darstellbar durch eine Farbfläche um ihn herum. Berechnen lässt sich aber auch, wie viel Raum eine gesamte Mannschaft kontrolliert, wenn sie ihr Spiel aufbaut oder angreift. Bei deutlichen Siegen kommt das erfolgreiche Team auf klar höhere Werte als das unterlegene. Dies ergab eine Studie zu 50 Spielen, die Perl und Memmert im Auftrag der Deutschen Fußball Liga analysierten.
Die folgende Animation zeigt ein Champion-League-Spiel, wie Perl und Memmert es sehen. FC Bayern gegen den FC Barcelona im April 2009, ab Minute zwei. Gelb die Räume, die München beherrscht, Blau die unter katalanischer Hoheit:
Um Positionsdaten spannende Erkenntnisse zu entlocken, setzen Perl und Memmert außerdem auf sogenannte neuronale Netze, die auf komplexen Algorithmen beruhen und längst viele Lebensbereiche durchdringen: Sie steuern die Hirne von Industrierobotern und die neuen, selbstfahrenden Autos. Sie enthüllen die Muster hinter klimatischen Schwankungen und optimieren die automatische Gesichtserkennung. Im Wettstreit zwischen Mensch und Maschine halfen neuronale Netze 2016 einem Computer, den Südkoreaner Lee Sedol zu besiegen, einen der weltbesten Go-Spieler – Experten hatten damit erst in Jahren oder Jahrzehnten gerechnet. Kürzlich gelang es Wissenschaftlern sogar, eine Software zu programmieren, die so etwas wie Intuition besitzt. Sie soll es Rechnern ermöglichen, beim Pokerspiel überzeugend zu bluffen.
Der Ansatz von Perl und Memmert geht über herkömmliche Statistik weit hinaus.
Daniel Memmert, Institutsdirektor an der Deutschen Sporthochschule Köln und im Besitz einer Trainerlizenz, liefert für die Programmierung das fußballerische Know-how, Perl übersetzt es in Rechenverfahren. Zum Beispiel können die beiden Forscher aus den Millionen von Positionsdaten einer Partie in Sekundenschnelle die häufigsten taktischen Formationen extrahieren.
Dazu fassen sie die Spieler zunächst in zwei Gruppen zusammen – die Angreifer und die Verteidiger. Weil Fußballer ständig in Bewegung sind, ergeben sich in jeder Sekunde leicht unterschiedliche Formationen auf dem Platz. Aus 2700 Momentaufnahmen – einer für jede Sekunde einer Halbzeit – filtert Perl dank seiner Algorithmen die häufigsten Defensiv- und Angriffsformationen der Teams. In einem weiteren Schritt kann er berechnen, welche Angriffsvariante gegen eine bestimmte Defensivformation des Gegners erfolgreich war – und welche nicht. Für den Trainer ein wichtiger Hinweis, wie er sein Team spielen lassen sollte.
Die von Perl und Memmert entwickelte Soccer-Software ist ein Werkzeug für Experten. Sie strotzt nur so vor Daten und Diagrammen, Zahlen und Tabellen. Wohlweislich hält Perl, der Informatiker, sich bei Verkaufsgesprächen mit Clubvertretern zurück und überlässt die Verhandlungen seinem fußballaffinen Kollegen. Eine fünfstellige Summe muss ein Interessent für eine halbwegs komplexe Ausführung von Soccer investieren. Ob auch Bundesligisten unter den Käufern sind, darüber schweigen die beiden Entwickler. Eines steht allerdings fest: Nur ambitionierte Clubs mit speziell geschultem Personal können die Möglichkeiten der Software voll ausschöpfen.
Könnte sich Bayern-Trainer Ancelotti seine Taktik für den nächsten Clásico von der Soccer-Software entwerfen lassen? Würde er seinen Kontrahenten Tuchel auf diese Weise überlisten? Werden die Analysewerkzeuge der Programmierer Trainer in Zukunft sogar ganz überflüssig machen?
Eines steht für Perl fest: Der Künstlichen Intelligenz gehört im Fußball die Zukunft. Schon jetzt ergänzen datenbasierte Programme die subjektive Beobachtung der Videoanalysten. Er und Memmert arbeiten an Simulationen und fahnden in ihrem Datenmaterial nach Spielmustern, die auf den ersten Blick vielleicht nach Zufall aussehen, in Wirklichkeit aber auf genialen Einfällen beruhen. Fußballkünstler wie Bayerns Thiago oder Dortmunds Dembélé produzieren solche Situationen in fast jedem Spiel. Vielleicht kann der Coach von ihnen lernen.
Bei aller Liebe zu den Daten und zur Geometrie: Jürgen Perl glaubt nicht, dass die Fans fürchten müssen, ihr geliebter Fußball werde zum Rasenschach mutieren.
Robert Bosch Stiftung und Reporter-Forum e.V. haben dieses Projekt im Rahmen der Masterclass „Zukunft des Wissenschaftsjournalismus“ gefördert.
Die Zukunft: Rasenschach oder Wunderfußball?
Fußball als Rasenschach – das ist der Albtraum jedes Fans. Doch mitunter scheint es, als arbeite der Spitzenfußball systematisch darauf hin. Ein völlig neues Berufsfeld hat sich entwickelt: der in Informationstechnik geschulte Assistenztrainer Spielanalyse. Seit kurzem kann man das sogar systematisch lernen: Kognitionsforscher Memmert hat an seinem Lehrstuhl den ersten akkreditierten Masterstudiengang Spielanalyse in Europa initiiert.
Als sich die Teilnehmer des Pilotjahrgangs im Herbst 2015 am Rande eines Länderspiels in Leipzig versammeln, sind unter den Weiterbildungswilligen gestandene Videoanalysten von Clubs der ersten und zweiten Liga – RB Leipzig, VFB Stuttgart oder Bayer 04 Leverkusen. Viele sind durch Learning by Doing an ihren Job gekommen. Das reicht für die Analysten der Zukunft vielleicht nicht mehr. Die technische Entwicklung ist rasant, die Nachfrage nach spezieller Expertise groß. Nicht nur Proficlubs, sondern auch Medien und Sportdienstleister stellen Analysten ein. Deshalb rüsten sie jetzt wissenschaftlich auf. Und dürfen sich als Elite fühlen.
Die Positionsdaten, dieser Schatz der Analysten, werden in Zukunft womöglich noch exakter erfasst als schon jetzt. 2015 erlaubte das International Board der FIFA erstmals die elektronische Datenaufzeichnung: Sensoren werden am Körper oder den Trikots der Spieler befestigt und senden über eine Antenne Signale, die zum Beispiel von einem sogenannten Local Position Measurement System aufgefangen werden.
Zur laufenden Saison gestattete auch die Deutsche Fußball Liga die neue Technik. Drei oder vier Vereine experimentierten bereits damit, sagt Innovationsexperte Hendrik Weber. Um die Entwicklung voranzutreiben, gründete die Deutsche Fußball Liga eigens ein Unternehmen namens Sportec Solutions GmbH, das ab Juli 2017 auch für die Spieldaten zuständig ist. Auf längere Sicht könnten die elektronischen Aufzeichnungssysteme das derzeitige optische Tracking ersetzen. Das größte Hindernis ist ausgerechnet der Ball.
Mit den Sensoren öffnet sich die Tür für noch mehr und noch andere Analysen im Profifußball. Schon jetzt arbeiten die Vereine im Training mit Brustgurten, um biometrische Informationen wie Atemfrequenz, Pulsschlag oder Hautwiderstand zu messen und die Belastung der Spieler zu steuern. Künftig könnten solche Daten live während des Spiels erfasst werden. Wenn ein Akteur dann müde ist vom aggressiven Pressing und das taktische Konzept zu sprengen droht, kann ihn der Trainer aus dem Spiel nehmen.
Den Fußballprofessor freut diese Aussicht. Sensorbasierte Daten eröffnen ihm diagnostische Einblicke in das Spiel, von denen er in der Vergangenheit nur träumen konnte. Clubs, die mit den neuen Möglichkeiten wissenschaftlich arbeiten können, dürften sich Wettbewerbsvorteile verschaffen. Den Fan dagegen beschleicht schon wieder ein unangenehmes Gefühl. Den Pulsschlag von Hummels während des Spiels messen? Womöglich den Laktatwert von Dortmunds neuem Dribbelkönig Dembélé? Oder die Atemfrequenz von Dauerläufer Durm? Und dann spuckt der Computer ein Datenblatt aus, wer auf die Reservebank muss?
Sportinformatiker Martin Lames glaubt nicht an eine Zukunft des Rasenschachs. Dazu kennt er sich zu genau aus mit dem Zufall im Fußball. Er hat ihn sogar wissenschaftlich untersucht, an 875 Toren der deutschen Bundesliga und 1056 Toren der englischen Premier League, erzielt während der Saison 2011/2012. Als glücklich bewertete er ein Tor zum Beispiel, wenn ein Schuss abgefälscht wurde, der Ball Pfosten oder Latte berührte oder der Torwart noch klar seine Hände im Spiel hatte. Ergebnis: Bei fast der Hälfte der Treffer spielte Zufall eine Rolle.
Die Fans mögen sich also entspannen. Borussia Dortmund wird auch künftig mal wieder kläglich bei Darmstadt 98 verlieren und wenig später Benfica Lissabon in der Champions League wegfegen. Die Saison wird kommen, in der nicht die Bayern aus München die deutsche Fußballmeisterschaft gewinnen. Und solange der FC Barcelona in der Champions League mitmischt, wird es Fußballwunder geben, wie beim geschichtsträchtigen 6:1 gegen PSG Paris, nach einem scheinbar uneinholbaren 0:4 im Hinspiel. Jeder Club sinnt auf neue Methoden, um seine Spieler optimal auf den Kampf vorzubereiten, körperlich, technisch, taktisch – aber der Gegner tut das ja auch.
Robert Bosch Stiftung und Reporter-Forum e.V. haben dieses Projekt im Rahmen der Masterclass „Zukunft des Wissenschaftsjournalismus“ gefördert.
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 07.04.2017 17:26 Uhr
