Morgendämmerung im Regenwald
Von ANDREAS FREY (Text) und NYANI QUARMYNE (Fotos)31. Oktober 2022 · Schwebende Flüsse gehören in Amazonien zum Wasserkreislauf, den Wissenschaftler in allen Details erforschen. Dort kann der Wald selbst Regen erzeugen – noch. Aber als natürliche Kohlenstoffsenke fällt er bereits aus: Das empfindliche Ökosystem ist gestört.
Manchmal verlässt Jonathan Williams das Camp, wenn es noch dunkel ist. Er steigt aus seiner Hängematte, schlüpft in feste Schuhe und marschiert los. Sein Weg durch die Nacht führt ihn an Baumriesen vorbei, an versteckten Schlangen, Spinnen und Käfern, die Tellerformat erreichen, wenn sie ihre Flügel ausbreiten, und brummend umherschwirren. Nach einem kurzen Marsch erreicht Williams einen roten Stahlturm, der mitten im Regenwald in den noch fahlen Himmel ragt. Aus der Finsternis des Waldes steigt Williams dann Stufe für Stufe empor, bis er die Aussichtsplattform in 325 Meter Höhe erreicht.
Eine halbe Stunde dauere der Aufstieg, aber bereut habe er ihn noch nie, erzählt Jonathan William am Telefon. Wenn er oben ankomme, dämmere es bereits. Diesen Moment genießt er jedes Mal: nur der Himmel und der Wald und mittendrin er, der Wissenschaftler. Kaum fallen die ersten Sonnenstrahlen auf die Baumkronen, verwandelt sich das endlose dunkle Nichts in jenen grünen Teppich, den er bei der Anreise vom Flugzeug aus sehen konnte. Dann bildet sich Dampf über den Wipfeln, die Luft trägt Düfte empor, und er entdeckt kleine Farbtupfer: Papageien, die von Baum zu Baum fliegen. Es sei der Moment, in dem die Größe und Schönheit und Einzigartigkeit des Regenwalds im brasilianischen Amazonasgebiet am ehesten begreifbar werden.
Für seine nächtlichen Ausflüge gibt er „touristische Gründe“ an, aber Williams ist beruflich dort. Ein-, zweimal im Jahr wechselt der Engländer vom Schreibtisch am Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie ins tropische Amazonien, um den größten zusammenhängenden Regenwald des Planeten aus nächster Nähe und luftiger Höhe zu erforschen. ATTO heißt das Projekt, kurz für Amazonian Tall Tower Observatory, das Williams koordiniert und das die Max-Planck-Gesellschaft zusammen mit der brasilianischen Regierung vor einigen Jahren initiierte. Herzstück des Projekts ist der 325 Meter emporragende Stahlturm in Brasilien, an dem „wir den Atem des Regenwalds messen“, wie der Atmosphärenchemiker es ausdrückt, und zwar in unterschiedlichen Höhen. Gemeint sind die komplexen Kreisläufe in diesem gewaltigen Ökosystem, etwa des Kohlenstoffs, faszinierend ist auch der Wasserkreislauf. Schon Kinder lernen, dass der Regenwald sein eigenes Wetter produziert, da gefallener Regen schnell verdunstet, somit neue Wolken in den Himmel wachsen oder genauer: sich eine eigene feuchte Atmosphärenschicht bildet. Schwebende Flüsse nennen Wissenschaftler dieses hydrologische Wunder, das dafür sorgt, dass vom Atlantik anrückende Regenfronten weit in den Kontinent vordringen und sich verstärken können – so eine eigene Zirkulation schaffen, die Regennachschub sichert und das Risiko für eine Dürre senkt.
Die grünen Urwaldriesen recyceln den Regen, indem sie das Wasser gleich wieder verdampfen lassen oder über die Wurzeln in die Kronen pumpen, wo es über die Blätter verdunstet. Evapotranspiration nennen Hydrologen diesen Prozess: Der Wald schwitzt, bildet Wolken, Regen fällt. Dieses System reguliert den Wasserkreislauf und bildet die Lebensgrundlage für Mensch und Tier. Zudem schirmt das Blätterdach die dünne, sensible Bodenschicht vor der senkrecht stehenden Sonne in den Tropen ab, schützt sie dadurch vor Austrocknung und Erosion. Genau verstanden ist dieser regionale Wasserkreislauf trotzdem noch nicht. Wie viel Regen der Wald selbst erzeugt und welche Mechanismen dabei ineinandergreifen, das sind Forschungsfragen, denen die Wissenschaftler um Jonathan Williams nachgehen – und die sie bald beantworten möchten. Die Schätzungen zum recycelten Regen liegen beispielsweise weit auseinander, reichen von einem bis drei Viertel. Unklar ist zudem, an welchem kritischen Punkt die Kreisläufe zusammenbrechen, wann also der Waldverlust das ganze System bedroht. Um diese Fragen beantworten zu können, wurde das ATTO-Projekt ins Leben gerufen. Mit dem Ziel, den Regenwald und seine Austauschprozesse mit Boden sowie Atmosphäre genauer zu verstehen – und den Einfluss des Klimawandels zu klären, um diesen exakter modellieren zu können. Deshalb haben sich die Wissenschaftler diesen Ort fernab der Zivilisation ausgesucht. Einen Ort ohne Fabriken, Kamine und Abgase, die ihre empfindlichen Messungen stören könnten. Errichtet wurde das monströse Bauwerk 150 Kilometer nordöstlich von Manaus, inmitten des schier unendlichen Regenwalds mit seinem einzigartigen Ökosystem. Die Anreise per Flugzeug, Boot und Jeep ist aufwendig und dauert sehr lange, aber nur so lassen sich unverfälschte Daten erhalten. Die Atmosphärenforscher, Biologen und Chemiker wollen zudem die Frage beantworten, was aus dem Regenwald wird, wenn ihm der Klimawandel weiter einheizt. Hitze und Dürre bedrohen das Naturparadies; Landnahme, Abholzung und Brände besorgen den Rest. Die Zukunft ist nicht sicher und klar nur eines: Ohne Urwaldriesen hat Amazonien keine Chance.
Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass das empfindliche Ökosystem Amazonas bereits kippt. Dann könnte sich das gigantische Kohlenstoffreservoir in eine Kohlenstoffquelle verwandeln, aus der mehr CO2 entweicht, als darin eingelagert werden kann. Sie fragen sich, was aus dem Regenwald wird, wenn der Normalzustand Dürre heißt: Kollabiert dann der Wasserkreislauf, und verwandelt sich der Regenwald in eine Savanne? Was wird aus der Artenvielfalt?
Die Dürre ist eine der Hauptfragen, um die sich auch Williams’ Forschung dreht. Klimamodelle deuten jedenfalls darauf hin, dass künftig häufiger damit zu rechnen ist, was Beobachtungen aus den letzten Jahren untermauern: 2005, 2010 und 2015 suchten drei schwere Dürren Amazonien heim. In manchen Regionen verlängerte sich die Trockenzeit von vier auf fast fünf Monate.
Das alles bleibt nicht folgenlos, weder für die schätzungsweise 400 Milliarden Bäume noch für die Kreisläufe, die damit verbunden sind. Beim Kohlenstoff könnte bereits ein Wendepunkt erreicht sein, rechnete im Sommer 2021 ein Forscherteam von der brasilianischen Weltraumbehörde INPE im Fachmagazin Nature vor. Demnach habe sich Amazonien bereits in eine Region verwandelt, die unterm Strich mehr CO2 in die Atmosphäre abgebe, als sie ihr entziehe. Zu diesem Ergebnis kamen die Forscher um Luciana Gatti nach 590 Messflügen über vier verschiedenen Regenwaldgebieten im Zeitraum von 2010 bis 2018 und ermittelten so die jeweiligen Kohlenstoffbilanzen. Vor allem der östliche Teil weise höhere Kohlendioxidemissionen auf, fanden die Forscher heraus. Ganz Ostamazonien ist demnach schon eine Kohlenstoffquelle, und da waren die Feuerjahre 2019 bis 2021 noch gar nicht eingerechnet. Aber die hohen Emissionen überraschen nicht, weil die Abholzung in den östlichen Gebieten in den vergangenen vierzig Jahren schneller voranschritt als im Westen. Ungefähr ein Sechstel des Regenwalds im Osten wurde zerstört und in Acker- oder Weideland umgewandelt. Die Temperaturen und die Feuergefahr sind seit 1979 stark angestiegen, das offene Land erwärmt sich stärker als der dichte, feuchte Regenwald; Dürre und Hitze setzen der Region vermehrt zu.
Zu ähnlich deprimierenden Ergebnissen waren 2021 auch Forscher der NASA anhand von Satellitendaten gekommen. „Die Fähigkeit der tropischen Regenwälder, Kohlenstoff zu speichern, schwindet“, lautete das Fazit der in Science Advances veröffentlichten Studie. Betroffen davon sind hauptsächlich die Regenwälder in Südamerika und Südostasien, wo die Abholzung stark zugenommen hat. Unterm Strich gehen diese Autoren davon aus, dass der Amazonaswald mittlerweile gleich viel Kohlenstoff speichere, wie er in die Atmosphäre abgebe. Damit scheidet dieser als natürliche Senke aus.
Besonders viel Kohlenstoff emittieren südamerikanische Regenwälder während El Niño. Das gefürchtete Wetterphänomen tritt alle paar Jahre auf und lässt Amazonien austrocknen, während an der Westküste heftiger Regen fällt. Im Jahr 2015 wirkte El Niño zuletzt besonders heftig, selbst im tiefsten Regenwald fiel über Wochen kein Tropfen vom Himmel. Jonathan Williams war zu dieser Zeit im Camp und berichtet noch heute schockiert von dem, was er sah. Die Blätter hingen traurig herunter, die Sprösslinge waren alle abgestorben. „Normalerweise regnet es auch in der Trockenzeit“, erzählt er, aber damals habe sich keine Regenwolke in den Regenwald verirrt. Das Amazonasbecken war 2015 auch deshalb so heftig von der Dürre betroffen, weil dort schon vor Beginn von El Niño Trockenheit herrschte.
Erschreckend trocken wurde es auch in dem Waldstück, in dem sich die Freiburger Professorin Christiane Werner vor zwei Jahren aufhielt. „Kleine Erde“ nennt die Biologin diesen Regenwald liebevoll, er wächst mitten in der Wüste von Arizona, umgeben von einer riesigen Glaskuppel, dem Forschungslabor Biosphere 2. In diesem Gebäudekomplex, in dem vor dreißig Jahren acht Wissenschaftler das Leben auf einem fremden Planeten simulieren wollten und kläglich scheiterten, gedeiht unter künstlichen Bedingungen ein tropisches Ökosystem, in das der Mensch kaum eingreift. Hier lässt sich unter kontrollierten Bedingungen erforschen, mit welchen Strategien die Bäume auf Trockenheit reagieren. Also spielte Christiane Werner Wettergott, drehte dem Wald das Wasser ab, setzte Flüsse und Wasserfälle trocken, simulierte fünf Monate Dürre. Die erste Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: „Wenn es trocken wird, schließt der Baum die Spaltöffnungen“, sagt sie, das sei eine typische Schutzfunktion. Manche Baumarten reagierten sofort, andere waren deutlich toleranter, zum Beispiel jene mit dicken Hartlaubblättern. Doch das hat seinen Preis: Gute Dürreanpassung gehe immer auf Kosten der Produktivität.
Das zeigte sich zur Überraschung der Forscher selbst während der Dürre in Biosphere 2: Gerade die extrem produktiven, großen Bäume reagierten am empfindlichsten, schlossen sofort die Spaltöffnungen, über die Wasserdampf nach draußen dringt und die dem Gasaustausch dienen, und warfen ihre Blätter ab. „Nach kurzer Zeit sah es aus wie im Herbst“, erinnert sich Werner. Zudem beobachteten die Forscher, wie die Bäume ihren Stoffwechsel herunterfuhren, den Verbrauch drosselten und die letzten Reserven des Tiefenwassers erst ganz zum Schluss anzapften. Jeder Baum reagierte anders. Und gerade dieses Zusammenspiel verleihe einem Wald jene Pufferfunktion, die er benötigt, um eine längere Dürre zu überstehen, ist Werner überzeugt. Intakte, artenreiche Wälder können Dürren also besser überstehen als geschundene.
Im Kohlenstoffkreislauf war eine ähnliche Trägheit zu beobachten: „Alle Prozesse verlangsamten sich, sobald der Regen ausblieb“, sagt Werner. Die Wurzeln erkannten die Trockenheit früh, weil der Oberboden austrocknete, und sie gaben ihre Informationen über Phytohormone rasch an die Blätter weiter. Mit sündhaft teuren Tracergasen konnten die Biologen den Weg des Kohlenstoffs nachverfolgen und wurden Zeuge, wie dieser von der Aufnahme durch die Photosynthese in den Blättern weiter in die Äste und in den Stamm transportiert wurde und von dort immer weiter nach unten wanderte. Ewig sei das gegangen, erinnert sich Werner. Träge reagierten die Bäume aber auch auf das Ende der Dürre. Als Werner den Wasserhahn wieder aufdrehte, blieben einige Bäume zunächst im Schutzmodus, pumpten das auf sie niedergegangene Wasser nicht sofort in die Blätter, sondern lagerten es erst einmal im Stamm ein.
Zwar wurde der Stoffwechsel während der Dürre heruntergeregelt, aber die Produktion der flüchtigen organischen Verbindungen war hingegen dynamisch. Bäume verströmen solche „volatile organic compounds“, kurz VOC, und geben diese als Gas oder Dampf an die Atmosphäre ab, wo sie mit Molekülen der Luft reagieren. Diese Substanzen locken mitunter Insekten an oder dienen der Kommunikation von Baum zu Baum. Als erste Reaktion auf die Trockenheit maß das Team von Christiane Werner einen starken Anstieg der Kohlenwasserstoffverbindung Isopren, mit der sich Pflanzen vor Hitze und starker UV-Strahlung zu schützen versuchen. Anschließend setzten die Pflanzen große Mengen von Monoterpenen frei, die man zum Beispiel im Kiefernöl riecht oder vielleicht als das Harz kennt, das im Sommerurlaub das Zelt verklebt: ein Zeichen von Stress.
Organische Kohlenstoffverbindungen, die aus der Vegetation stammen, stehen unter besonderer Beobachtung von Christiane Werner und ihrem Kollegen Jonathan Williams, der ebenfalls in Biosphere 2 forschte. Gerade die erwähnten Monoterpene spielen eine wichtige Rolle bei der Bildung von Aerosolen, die wiederum Wolken und anschließend Regen entstehen lassen. Die beiden Forscher stellen sogar die Hypothese auf, dass Bäume unter Trockenstress mehr Monoterpene gezielt absondern, um Wolken zu bilden und Regen auszulösen. Wie dieser Prozess funktioniert und zu welcher Tageszeit, das möchte Williams nun endlich besser verstehen, und zwar am Stahlturm unter realen Bedingungen. Denn durch das Glasdach der Biosphere 2 dringt kein UV-Licht – viele der chemischen Reaktionen, die normalerweise in der freien Atmosphäre ablaufen, bleiben deshalb aus.
Auch das ist ein Grund, warum Jonathan Williams so gerne in aller Frühe auf den Turm klettert. Er möchte dabei sein, wenn der Duftcocktail und die darin enthaltenen hochreaktiven organischen Verbindungen den Turm emporströmen. Das passiert immer kurz nach Sonnenaufgang. Wenn der Regenwald erwacht.
Dieser Artikel wurde erstmals am 21. Januar 2022 veröffentlicht.
Über allen Wipfeln ist Ruh
Von LAURA SALM-REIFFERSCHEIDT (Text) und NYANI QUARMYNE (Fotos)31. Oktober 2022 · Welche Bedeutung das ausgedehnte Regenwaldgebiet im Kongobecken für das globale Klima hat, ist bislang kaum erforscht. Das ändert sich jetzt, dank eines modernen Messturms.
Für die 221 Sprossen Richtung Himmel braucht Fabrice Kimbesa lediglich zwei Minuten. Geübt erklimmt der 26-Jährige eine nach der anderen, bis er am Ende der Leiter ankommt, sein Sicherheitsseil ausklinkt und auf die Plattform des CongoFlux-Turms klettert. Vor seinen Augen erstreckt sich jetzt nach allen Seiten ein grünes, schier unendliches Meer an Baumkronen, und selbst die höchsten Wipfel liegen noch 15 Meter unter ihm.
Seit mehr als einem Jahr arbeitet Kimbesa, der an der Universität von Kisangani studierte, als Techniker des 55 Meter hohen Messturms im Yangambi-Biosphärenreservat der Demokratischen Republik Kongo. Fast täglich klettert er auf den Turm, kontrolliert die dort montierten Sensoren und checkt die Computer in der Bodenstation, die alle Daten speichern. Die Sensoren und eine sogenannte Eddy-Kovarianz-Technik erlauben es, genaue Daten über den Austausch von Treibhausgasen wie Methan, Kohlenstoffdioxid (CO2), Distickstoffmonoxid und Wasserdampf zwischen Wald und Atmosphäre zu sammeln. „Das gibt uns Auskunft darüber, wie der Wald uns in Zeiten des Klimawandels helfen wird“, erklärt Kimbesa. Bisher wurde den tropischen Waldgebieten im Kongobecken im Vergleich zu jenen in Asien und Brasilien nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt – von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Dabei ist dieser Regenwald hier der zweitgrößte zusammenhängende der Welt und umspannt fast 200 Millionen Hektar, deren globale Bedeutung man mithilfe des Flux-Turms erfassen will.
Zehnmal pro Sekunde werden Gaskonzentrationen und Windgeschwindigkeiten in drei Dimensionen gemessen. So können die Wirbel oder „Eddies“, die Gase wie CO2 und Wasserdampf transportieren, erfasst und quantifiziert werden. Tagsüber, wenn die Sonne scheint, respirieren Bäume und Mikroorganismen im Boden, aber es findet auch Photosynthese statt, und die Blätter nehmen CO2 auf, das im Stamm, in den Ästen und Wurzeln gespeichert wird. Nachts fällt die Photosynthese weg, Bäume und Mikroben geben CO2 ab. Durch kontinuierliche Messung des Gasaustausches erhält man den Nettoökosystemaustausch, kurz NEE für Net Ecosystem Exchange. Im Mai 2022 sollen im Umkreis des Flux-Turmes spezielle Bodenkammern installiert werden, um die CO2-Respiration des Bodens zu bestimmen, mit nächtlichen Eddy-Kovarianz-Messungen will man die CO2-Emissionen von Bäumen und Boden ermitteln. Daraus mitsamt NEE lässt sich dann die Bruttoprimärproduktion berechnen, also die gesamte Menge an Kohlenstoff, die von Bäumen in dem Ökosystem über eine bestimmte Fläche in einem bestimmten Zeitraum fixiert wird. „Diese Zahl ist die wichtigste, um Auskunft über das CO2-Speicherpotential eines Walds zu geben“, erklärt Pascal Boeckx, Chef des Isotope-Bioscience-Labors ISOFYS an der Universität Gent in Belgien, das unter anderem die wissenschaftliche und technische Leitung des CongoFlux-Turmes innehat.
Entscheidend ist, dass die Daten ohne Unterbrechung über längere Zeiträume gewonnen werden. Das zu gewährleisten ist jedoch schwierig: Das Kongobecken weist eine der höchsten Raten an Blitzschlägen weltweit auf. Im Mai 2021 traf ein Blitz einen Baum, der in der Folge das 2,5 Kilometer lange Stromkabel beschädigte, welches den Turm mit einem Solarpark am Rande des Waldes verbindet. Die Sensoren fielen über Wochen aus, und Ersatzkabel müssen nun ins Biosphärenreservat transportiert werden. Das kann bis März oder länger dauern. Damit die Messungen nicht zu lange unterbrochen sind, hat Kimbesa mit seinen Kollegen ein paar Solarzellen direkt am Turm montiert. Die Eddy-Kovarianz-Messungen werden für verschiedene Ökosysteme wie Gras-, Moor- und Waldlandschaften vorgenommen. Weltweit gibt es mehr als 1400 solcher Stationen, auf dem afrikanischen Kontinent sind es lediglich an die zehn, und diese stehen meist in Savannen oder in anderen nicht vergleichbaren Gebieten. Das macht den CongoFlux-Turm so einzigartig.
Die Rohdaten aus dem Kongobecken werden regelmäßig gespeichert, in die Cloud hochgeladen und einer Qualitätskontrolle unterzogen. Die bearbeiteten Daten werden dann über das „Integrated Carbon Observation System“ und Fluxnet zugänglich gemacht, damit Forscher etwa Erdsystemmodelle erstellen können. Das sind Klimamodelle, die zusätzlich chemische und biologische Prozesse der Erde simulieren. Bisher wurden dafür oft Daten aus dem Amazonasgebiet verwendet. „Es gibt aber noch keine Messungen, um die Ergebnisse dieser Modelle für das Kongobecken zu validieren“, sagt Boeckx. Doch das sei wichtig: Dieser Wald unterscheide sich in Struktur, Baumarten und den Einflüssen durch den Menschen erheblich vom Amazonaswald. Die Messungen des Turms könnten demnach ein wichtiger Ankerpunkt für Modelle werden, die zum Beispiel der Prognose dienen, wie Klimaveränderungen die CO2-Aufnahme des Waldes beeinflussen werden. Im Mai 2022 werden weitere Sensoren montiert für die Eddy-Kovarianz-Messungen von Methan und Distickstoffmonoxid. Im Messradius des Turms werden zusätzliche Informationen gesammelt, über Blattoberflächen und Bodenbeschaffenheit etwa, auch existiert ein Bauminventar.
Daten, um die Luftverschmutzung einzuschätzen, werden ebenfalls erhoben. So ist Ozon in der Troposphäre ein Treibhausgas, aber zudem ein Schadstoff, der Atemwegsprobleme hervorrufen kann und ab einer gewissen Konzentration die Photosynthese der Bäume beeinträchtigt. Bisher mangelte es an verlässlichen Messungen für diese Region, doch jetzt liegen die ersten Daten vor: Die Ozonwerte sind hier teilweise so hoch wie jene, die in Europa gemessen werden.
„Alle denken, nur weil es ein tropischer Wald ist, sei dieser unberührt. Aber die atmosphärische Verschmutzung über diesem Wald ist tatsächlich recht hoch“, sagt Boeckx. Der Grund dafür sei das Verbrennen von Biomasse, nicht unbedingt im Wald selbst, aber nördlich und südlich davon, wo Kleinbauern traditionell Brandrodung betreiben, bevor sie ihre Felder bestellen: Ihre Feuer geben Stickstoffoxide in die Atmosphäre ab. Gleichzeitig produzieren tropische Wälder flüchtige organische Verbindungen, die ihre Blätter freisetzen. Treffen diese nun auf Stickstoffoxide unter Einfluss des Sonnenlichts, entsteht Ozon. Dadurch kommt es laut Boeckx zu hohen Ozonkonzentrationen von bis zu 60 ppb; alles über 40 ppb beeinflusst die Photosynthese. Der belgische Forscher berichtet von Modellen, denen zufolge sich die Fotosynthesekapazität dieser Wälder in Zukunft verringert, wenn das Ozon ansteigt, weil die Bevölkerung wächst und so mehr Felder abgebrannt werden, um die Erträge zu steigern. Deshalb sei die Messung der tatsächlichen Ozonkonzentrationen wichtig, um solche Modelle zu untermauern. Auf dem Flux-Turm, der mit seinen Verstrebungen an einen Hochspannungsmast erinnert, kümmert sich ein Gerät auch um den Ruß, denn dieser gibt Auskunft über die verbrannte Menge an Biomasse. „Die abgebrannten Flächen, die unsere Station bemerkt, können 2000 oder 3000 Kilometer entfernt sein“, sagt Boeckx. Anhand von Satellitenaufnahmen werde festgestellt, wo Flammen lodern, und mithilfe von Modellen berechnet, wie diese Brände die Messungen in Bezug auf die Luftverschmutzung beeinflussen.
Der CongoFlux-Turm ist Teil des „Yangambi Landscape“-Projekts, das auf einer Partnerschaft des bereits in den 1930er-Jahren gegründeten Nationalen Instituts für Agronomische Studien und Forschung in Yangambi mit der Universität von Kisangani, dem Center for International Forestry Research, kongolesischen Ministerien sowie der Firma Resources & Synergies Development beruht. Ziel ist es, den Wald und dessen Biodiversität zu erforschen und zu erhalten. Gleichzeitig will man so die Lebensgrundlage der Menschen, die in und von dieser Landschaft leben, verbessern. Und den CongoFlux-Turm zu bauen war eine der größeren Herausforderungen.
Das Material wurde in Containern aus Antwerpen mit dem Schiff nach Kenia gebracht, mit Trucks quer durch Uganda bis nach Kisangani im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo und von dort mit Lastkähnen 90 Kilometer flussaufwärts bis Yangambi. Die sandige Straße von der Anlegestelle bis zum Wald musste verstärkt werden. Errichtet wurde die Konstruktion dann ohne die Hilfe eines Krans, nur mit Muskelkraft und Lastseilen. Das metallene Ungetüm sorgte anfangs für Unruhe, in der Region verbreitete sich das Gerücht, der Turm stehle den Menschen Sauerstoff und leite diesen nach Europa um. Das Team des Landschaftprojektes antwortete darauf mit Aufklärung, Mitarbeiter gingen in Schulen, um Kindern den Wert ihres Waldes und die Grundlagen des Klimawandels näherzubringen.
Dass die Menschen im Kongobecken durch die Forschung profitieren können, weiß Emmanuel Bulonza. Im Rahmen seiner Doktorarbeit an der ERAIFT in der Hauptstadt Kinshasa, einer postuniversitären Einrichtung unter Ägide der UNESCO und der Universität Gent, wertet Bulonza die gesammelten Daten aus, um den CO2-Austausch zwischen Wald und Atmosphäre zu quantifizieren. „Wenn wir wissen, wie viel Kohlenstoff unser Wald speichert, ermöglicht das unserem Land zum Beispiel eine bessere Verhandlungsbasis in Bezug auf Carbon Credits mit REDD+“, gibt der 28-Jährige ein Beispiel. Natürlich sind die Daten noch in anderer Hinsicht international von Bedeutung: Um etwa herauszufinden, ob und wie viel der Wald im Kongobecken zur Entschärfung des Klimawandels beitragen kann, muss man seine Wechselwirkung mit der Atmosphäre kennen.
Das ist auch Fabrice Kimbesa bewusst. Etwas außer Atem nimmt er seinen Schutzhelm ab, als er nach dem Geräte-Check wieder am Boden angekommen ist. Dass seine Arbeit zum Verständnis des Klimawandels beiträgt, darauf ist der Techniker stolz: „Das ist ein Problem, das die ganze Welt betrifft.“
Blatt für Blatt
Mit diesem „European Development Journalism Grant“ wird das F.A.S.-Wissenschaftsressort im Team mit freien Autoren und Fotografen in den kommenden Monaten das Projekt „Baumpalaver“ verfolgen, das daran angelehnt ist, dass sogenannte Palaverbäume traditionell das Zentrum afrikanischer Dörfer darstellen. Mit einer Artikel-Serie wollen wir, in loser Folge, den Blick auf Bäume an sich lenken, deren Funktion und Bedeutung für uns Menschen deutlich machen. Nicht nur als Instrument im Kampf gegen den Klimawandel, sondern auch als Hilfsmittel, mit dem Menschen ihren Lebensstandard, ihre Gesundheit und ihre Umwelt nachhaltig verbessern können: Wie tragen Wälder zu unser aller Gesundheit und Wohlbefinden bei? Was passiert mit Dörfern oder Städten, denen es an Bäumen mangelt? Und wie hängen Ökosysteme zusammen, gerade in Anbetracht von Epidemien, wenn Menschen zunehmend in die Lebensräume von Tieren und Pflanzen eindringen, Wälder zerstören?
All diesen Fragen möchten wir in verschiedenen Ländern nachgehen und in Reportagen Menschen vorstellen, deren Ideen die Entwicklung ihrer Gemeinschaften, Dörfer und Städte nachhaltig vorantreiben.
Sonja Kastilan
Das Projekt kann in der F.A.S., auf FAZ.net und auf Twitter unter @baumpalaver verfolgt werden.
Die Beiträge zur Atmosphärenforschung bilden den vierten Teil des Projekts „Baumpalaver“.
Dieser Artikel wurde erstmals am 21. Januar 2022 veröffentlicht.
Quelle: F.A.S.
Veröffentlicht: 31.10.2022 15:27 Uhr
