Soziale Systeme : Was man aus Kirchenaustritten lernen kann
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Der sonntägliche Kirchgang war früher unumgänglich. Heute gibt es immer mehr Kirchenaustritte. Bild: dpa
Niklas Luhmann kritisierte, Geistliche könnten aus Austrittsdokumenten nicht ablesen, wieso sich Menschen von der Kirche abwenden. In einem nun erstmals leicht zugänglichen Aufsatz machte der Soziologe einen kühnen Vorschlag.
Warum gingen, warum gehen die Leute eigentlich in die Kirche? Nicht nur um Gottes willen, so viel ist sicher. Lange Zeit gab es zur Teilnahme am Ritual keine Alternativen. Wer beim Gottesdienst unentschuldigt fehlte, galt als ungläubig, und um den Ungläubigen pflegten die anderen auch außerhalb der Kirche einen großen Bogen zu machen. Kann man so jemandem Geld leihen? Seiner Aussage trauen, wenn er als Zeuge vor Gericht auftritt? Ihn heiraten?
Am Sonntag zur Kirche zu gehen war also schon deshalb sinnvoll, weil es im Alltag viel Ärger ersparte. Noch im Amerika des neunzehnten Jahrhunderts galt die Zugehörigkeit zu den Methodisten als sicheres Zeugnis einer einwandfreien Zahlungsmoral, und also konnte man dieser Kirche auch im Interesse an der eigenen Kreditwürdigkeit beitreten. Die Teilnahme an „geistlichen“ Kommunikationen zahlte sich in „weltlichen“ Handlungszusammenhängen aus. Auf die religiöse Qualität der Teilnahmemotive konnte es unter diesen Umständen nicht ankommen, und auch ihr etwaiges Fehlen wurde nicht immer bemerkt. Denn wo der eigene Glaubenszweifel, offen einbekannt, all jene Probleme erzeugt hätte, da war man gut beraten, ihn für sich zu behalten. Der Unglaube war Privatsache.
In einem entlegen publizierten, nun erstmals leicht zugänglichen Aufsatz ist der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann einmal der Frage nachgegangen, welche Folgen sich aus dieser Lage für die kirchenoffizielle Auslegung des Glaubens, also für die Dogmatik ergaben.
In den antiken Anfängen des Christentums, als es noch religiöse Alternativen gab, musste diese Auslegung sich auch bei der Mitgliederwerbung bewähren. In der späteren Staats- oder Volkskirche war das nicht mehr erforderlich. Die Dogmatik des Mittelalters musste, so Luhmann, nicht mehrheitsfähig, nicht plausibel, nicht attraktiv sein. Die Theologen genossen erhebliche Interpretationsfreiheiten und wie die großen Kontroversen der Scholastik bezeugen, haben sie davon reichlich Gebrauch gemacht. Am Ende standen jene radikalen, kaum noch vermittelbaren Positionen der voluntaristischen und nominalistischen Theologie, mit denen nicht nur die Kirchenspaltung, sondern auch die Moderne beginnt.
In der modernen Gesellschaft ist dagegen der Glaube zur Privatsache geworden. Die Kirchenmitgliedschaft verspricht wenig Vorteile in anderen Rollenbereichen, und man kann jederzeit auf sie verzichten, ohne dafür mit dem Verlust des Wahlrechts oder mit Nachteilen auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Partnersuche bestraft zu werden. Entsprechend findet man die religiös Indifferenten inzwischen in allen gesellschaftlichen Bereichen und Ranglagen, auch in den höchsten politischen Ämtern.
Luhmann fragt nun auch für diese Lage, was sie für die Dogmatik des Glaubens bedeutet: Soll man davon ausgehen, dass die Leute nun erstmals aus rein religiösen Gründen in die Kirche gehen, einfach weil sie sonst ja nichts davon haben? Soll man ihren Verbleib in der Mitgliedschaft als eine Art von Votum zugunsten der offiziellen Dogmatik verstehen? Oder gar in den Motiven für Kirchenaustritte nach Anregungen für eine zeitgemäße Neuauslegung des Glaubens suchen?
Dass die Kirchen selbst in Eintritt und Austritt ihrer Mitglieder eine Stellungnahme zum Glauben sehen, ist klar. Aber schon der Umstand, dass viele dieser Mitglieder an Gemeindeleben und Gottesdienst gar nicht teilnehmen, weckt erste Zweifel daran. Offenbar kann man einen Glauben auch deshalb unterstützen, weil es andere gibt, denen er etwas bedeutet. Aber wie gut lernt man ihn dann kennen? Weitere Zweifel kommen hinzu, wenn man in Umfragen liest, in wie unbestimmten Worten Kirchenmitglieder den Sinn ihres jeweiligen Glaubens umschreiben. Auf die kirchenoffizielle Dogmatik dieses Sinnes scheint es dabei kaum anzukommen. Dazu passen andere Daten, wonach die religiösen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der großen Volkskirchen keineswegs geringer sind als diejenigen zwischen ihnen.
Wenn die Mitglieder den wirklichen Glauben nicht kennen, dann kann die Kirche aus ihrem Kommen und Gehen auch über möglichen Glauben nichts lernen. Die Außengrenzen des Kirchensystems, so der Befund Luhmanns, sind theologisch nicht informativ. Einen besseren Ansatzpunkt für religiöse Experimentierfreude könnte dagegen, so sein Vorschlag, ein genau darauf spezialisiertes Gespräch des Geistlichen mit den aktiven Gemeindemitgliedern bieten. Dazu müsste es den Amtsträgern freilich gestattet werden, zwischen mehreren Lesarten des Glaubens zu wählen, so dass sie auf den Fehlschlag der einen Version mit dem Angebot einer anderen reagieren können.
Die Grenzen des Wählbaren wären durch die Amtskirche zu ziehen, die dann auch die Rückmeldungen sammeln und auswerten müsste. Das freilich ist, wie Luhmann auch selbst zugibt, ein ziemlich kühner Vorschlag. Er würde nämlich eine neue Ausbildung der Geistlichen erfordern, die von Wahrheitsbesitz auf Lernfähigkeit umgestellt wäre.