
Ist das seriöse Wissenschaft? : Blüten der Pandemie
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Zum Krisenstab in Heinsberg. Bild: Reuters
Voreilige PR-Kampagnen, vorlaute Akademiker, kompromittierte Gutachter: Forscher opfern in der Hektik der Pandemie wichtige Standards. Offenbar haben sie den Wunsch nach mehr Transparenz gründlich missverstanden.
Wer in den letzten Wochen den Eindruck gewonnen hat, die Politik habe Schwierigkeiten, sich die Wissenschaft vom Leib zu halten, wer sich schon von Virologen und nicht von Politikern regiert glaubte, der sollte die Sache mal von der anderen Seite betrachten. Die Wissenschaft verbiegt sich in der Krise nämlich teils nach Strich und Faden. Da werden Standards missachtet, als hätte man in der Hektik der Pandemie das Recht erworben, die für eine seriöse Selbstkontrolle nötigen Regeln außer Kraft und gleichzeitig die Nonchalance der sozialen Medien ins Werk zu setzen.
Den Tiefpunkt in dieser Hinsicht markiert das von einer fachlich vollkommen unbeleckten PR-Agentur namens Storymachine betreute „Heinsberg-Protokoll“. Zehn Social-Media-Redakteure der PR-Firma hatten von dem Bonner Universitätsvirologen Hendrik Streeck die Propaganda-Prokura erhalten, und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Laschet freute sich, auf der Pressekonferenz die für ihn passende Botschaft mit nach Hause nehmen zu dürfen: Schluss mit dem Shutdown. Die Querschnittstudie sollte aus der Gemeinde Gangelt Informationen über die Dunkelziffer der Sars-CoV-2-Infizierten liefern. Ob aus den verwendeten Tests in einer der überdurchschnittlich betroffenen Pandemieregionen wirklich Rückschlüsse auf die Lage im Land gezogen werden können, sei dahingestellt. Viel wichtiger ist, dass die Studie bei der öffentlichen Bekanntgabe längst nicht beendet und die Methoden und Details der Studie für andere Experten nicht nachprüfbar waren. Kein Manuskript, kein Preprint. Vielmehr hat es der Zwischenbericht geschafft, selbst die verstörende PR-Affäre um den unfertigen Heidelberger Brustkrebstest noch einmal in den Schatten zu stellen, indem er einzig darauf angelegt war, lässige Bilder, kernige Sätze und den politischen Schulterschluss auf höchster Ebene zur Schau zu stellen.
Der Verdacht, dass die Pandemie bei aller wissenschaftlichen Kooperationsbereitschaft, welche die ersten Wochen nach dem Ausbruch in China kennzeichnete, zu einer echten Vertrauensprobe für das Wissenschaftssystem werden könnte, hat sich früh abgezeichnet. Die „Infodemie“ mit Fake News und Verschwörungstheorien nahm ihren Ausgang auch über halbseidene Manuskripte, die auf Preprint-Servern veröffentlicht wurden. Wie schnell sich auf diese Weise neben der guten auch schlechte Wissenschaft – ohne jede Begutachtung – verselbständigen kann, zeigte sich sehr bald. Nicht einmal John Ioannidis, der Evidenz-Papst aus Stanford, der schon bald nach Ausbruch der Pandemie vor evidenzschwachen offiziellen Corona-Statistiken warnte, konnte der Versuchung widerstehen. Um seine auf Youtube verbreitete Botschaft zu untermauern, die Pandemie sei Hysterie, publizierte er kürzlich eine fragwürdige Risikoanalyse, in der er fahrlässigerweise das – noch vorläufige – Sterberisiko von unter fünfundsechzigjährigen Corona-Infizierten mit dem absoluten Risiko gleichsetzte, bei einem Autounfall in New York ums Leben zu kommen.
Und während auf dem Preprint-Server „MedRxiv“ eine Gruppe des Helmholtz-Instituts für Infektionsforschung vor „vorschnellen Lockerungen im Lockdown“ warnte, agitierte gleichzeitig der keine Präsentationsplattform auslassende Hallenser Kollege Alexander Kekulé fröhlich auf Twitter, der Plan für den Lockdown-Exit liege seit zwei Wochen auf dem Tisch und die „kontrollierte Durchseuchung der Bevölkerung“ müsse endlich umgesetzt werden.
Es sind aber längst nicht nur Aufmerksamkeitsgefechte, die den Wissenschaftsbetrieb ins Schleudern bringen. In den Vereinigten Staaten mussten sich ehemalige Direktoren der Arzneizulassungsbehörde FDA zusammenfinden, um Präsident Trump entgegenzutreten, der ohne jede Evidenz Propaganda für den Malaria-Wirkstoff Chloroquin macht. Gleichzeitig twitterte dessen geschasster Kriegsveteranenminister David Shulkin die Kopie eines vertraulichen Manuskripts des „New England Journal of Medicine“ zu klinischen Chloroquin-Tests, das der Politiker offenbar von einem der Gutachter zugespielt bekommen hatte. So treibt die anfänglich von allen hochwillkommene Transparenz bei der wissenschaftlichen Bewältigung der Pandemie mittlerweile die schlimmsten Blüten.