Plantagen im Indischen Ozean
Text von LAURA SALM-REIFFERSCHEIDTFotos von NYANI QUARMYNE
3. Mai 2022 · Die Zucht von Rotalgen ist lukrativ für den Export, und auf Sansibar kümmern sich vor allem Frauen um den Anbau im Meer. Nun zwingt der Klimawandel viele, ihre Felder in tieferes Wasser zu verlegen, doch die wenigsten können schwimmen oder besitzen ein Boot für die Ernte.
Der Mond bestimmt, wann Mwanaisha Makame Simai ihre Felder im Meer vor Sansibar besuchen kann oder wann das Wasser diese für sie unerreichbar macht. Sie ist Muslimin, alle wichtigen Feiertage und Ereignisse in ihrem Leben richten sich nach diesem Himmelskörper – sie weiß, in welchen Nächten der Mond in voller Schönheit oder eben nicht einmal als schmale Sichel zu sehen ist. Tags darauf herrscht jeweils Springflut, da ist der Unterschied zwischen den Gezeiten am größten, und der Indische Ozean gibt ihre Felder bei Ebbe für ein paar Stunden frei. Genug Zeit, um sie zu pflegen und abzuernten. So auch heute, nur ist Makame Simai etwas spät dran, das Wasser steigt schon wieder.
Langsam watet die 49-Jährige ins Meer, sie bewegt sich im Einklang mit den Wellen, die den Stoff ihres petrolfarbenen Buibuis, des traditionellen Überkleides, um ihre Beine tanzen lassen. Als sie ihr Feld erreicht, greift Mwanaisha Makame Simai nach einer Nylonschnur, von der mehrere Meter zwischen zwei in den Meeresboden gerammten Stöcken gespannt sind. Daran sind in regelmäßigen Abständen Büschel von Makroalgen befestigt: den Mwani, wie sie in der Landessprache Swahili heißen. Daneben reihen sich weitere solcher Schnüre, an denen Algen im Wasser treiben. Im Teenager-Alter half sie ihrer Großmutter jedes Wochenende auf deren Plantage: „Die Arbeit gefiel mir“, sagt Makame Simai, und seit sie die Schule beendet hat, bestellt sie ihre eigenen Algen-Felder vor Paje, einem Dorf an der Ostküste von Unguja. Das ist eine der beiden Hauptinseln der Inselgruppe Sansibar, das wiederum seit 1964 als ein halbautonomer Teilstaat zur Republik Tansania zählt.
Makame Simai kontrolliert, ob sich eine Schnur gelöst oder einer der Stöcke gelockert hat. Sie untersucht die Algen auf Krankheiten und ob Fische daran geknabbert haben. Wo Lücken sichtbar sind, bindet sie Stücke fest, die sie von den anderen Seetang-Büscheln abbricht. Solchen Makroalgen fehlen die Wurzeln, Sprossachsen und Blätter höherer Pflanzen, stattdessen bestehen sie nur aus einem Vegetationskörper, im Fachjargon Thallus genannt, der an Fläche zulegt, indem sich an der Spitze der Verzweigungen die Zellen teilen. Innerhalb von 45 bis 60 Tagen wächst ein Seetangstück zu einem großen Thallus heran, und den kann Makame Simai dann ernten.
Die Rotalgen Eucheuma denticulatum, und Kappaphycus alvarezii sind in der Branche unter ihren Handelsnamen Spinosum beziehungsweise Cottonii bekannt und werden hier angepflanzt, um Carrageen zu gewinnen. Es handelt sich dabei um Polysaccharide, die Proteine und Wasser gut binden, deshalb als Stabilisatoren, Gelier- und Verdickungsmittel vielfach Verwendung finden. Unter der Bezeichnung E 407 ist Carrageen in Milchprodukten wie Frischkäse, Eiscreme oder Pudding zu finden, aber auch in Fleisch- und Fischprodukten sowie in Kosmetika und Drogerieartikeln. Das deckt allerdings noch nicht die ganze Palette an Möglichkeiten, wie Makroalgen genutzt werden können: Unter der Bezeichnung Nori, Wakame und Ulva landen essbare Arten als Sushi-Röllchen oder Suppeneinlage auf dem Tisch, andere werden zu Tierfutter und Düngemittel verarbeitet. Und in der Kosmetik- und Pharmaindustrie lernt man die Eigenschaften der marinen Organismen mehr und mehr zu schätzen. „Die Zahl der Forscher, die mögliche Anwendungen von Algen erforschen, steigt stetig“, bestätigt die Meeresbiologin Elizabeth Cottier-Cook von der Scottish Association for Marine Science. Deren Ziel sei dann, nachhaltiges Verpackungsmaterial oder Biotreibstoff zu entwickeln – aus Algen als Alternative zu Erdöl. Geforscht wird aber auch daran, wie sich Algen einsetzen lassen, um die Emission von Treibhausgasen wie Kohlenstoff und Methan zu reduzieren; mischt man Algen zum Beispiel Schafen ins Futter, setzen diese wesentlich weniger Methan frei, wie Studien am Teagasc Food Research Centre im irischen Dublin zeigten.
Der Bedarf an Makroalgen steigt jedenfalls rapide, die weltweite Produktion in speziellen Aquakulturen – im Gegensatz zu wild wachsendem Tang, der direkt im Meer oder an Stränden gesammelt wird – hat sich nach Angaben der UN-Welternährungsorganisation seit den 1950er-Jahren vertausendfacht und lag 2019 bei etwa 34,7 Millionen Tonnen frischer Algen. Führend im Anbau sind asiatische Länder, China vor Südkorea, Indonesien und den Philippinen, und obwohl Sansibar im Jahr nur 11.000 bis 12.000 Tonnen Trockengewicht produziert, während es China auf die beinahe 200-fache Menge bringt, spielt dieser Sektor eine sehr wichtige Rolle für die Wirtschaft der Inselgruppe: Algen sind nach Nelken und dem Tourismus die wichtigste Devisenquelle, in 56 Dörfern bietet die Branche rund 25.000 Menschen einen Job, 80 Prozent davon sind Frauen. Sie hielten anfangs durch, als die ersten Männer schon wieder absprangen. Und als die Preise für Seetang stiegen, sich die Verdienste für die harte Arbeit richtig lohnten, hatten sie damit ein gutes Einkommen. Das lockt seit ein paar Jahren auch wieder mehr Männer.
Neben dem Klimawandel stellt aber die Intensivierung des Algenanbaus die Seetangbauern vor Herausforderungen – in den asiatischen Gewässern wie auch vor der Küste Sansibars. „Steigende Temperaturen, stärkere Winde und unregelmäßige Regenfälle wirken sich auf die Erntemengen und die Qualität des Seetangs aus“, erklärt Flower Msuya. Die tansanische Phykologin forscht und arbeitet seit mehr als drei Jahrzehnten auf Sansibar. Seit man in Tansania mit dem Anbau von Seetang begonnen hat. Zuvor exportierte das ostafrikanische Land lediglich wild wachsenden Seetang in überschaubaren Mengen. Versuche, heimische Arten zu kultivieren, schlugen fehl: „Diese haben nicht die nötige Biomasse erreicht, und so wurden andere Sorten der hier wachsenden Arten für den Anbau aus den Philippinen importiert“, sagt Msuya. Anfangs erzielten die Farmer gute Erfolge mit Rotalgen, sprich Spinosum und Cottonii. Doch seit der Jahrtausendwende wachse Cottonii an vielen Küsten Sansibars nicht mehr. Die Sorte sei sehr temperaturempfindlich, erklärt Msuya, und das seichte Meer, in dem der Seetang angebaut wird, erreiche bereits Temperaturen von bis zu 38 Grad, vor allem während der heißen Jahreszeit, im Januar und Februar. Die Bauern könnten oft nur noch Spinosum anbauen, dabei bringe die Sorte nur halb so viel ein wie Cottonii. „Das Kappa-Carrageen aus Cottonii ist dicker, von besserer Qualität und hat mehr industrielle Anwendungen“, erklärt Msuya bei einem Treffen in ihrem Büro nahe dem Hafen von Stone Town, dem ältesten Stadtteil von Sansibar, der gleichnamigen Hauptstadt an der Westküste von Unguja. Mit ihrer Expertise will Msuya unter anderem helfen, die Zukunft der Insel nachhaltig zu gestalten, sie ist Initiatorin der Zanzibar Seaweed Cluster Initiative, eines Netzwerks von Wissenschaftlern, Regierungsbeamten und Bauern, das daran arbeitet den Algensektor an den Klimawandel anzupassen.
Rund eine Stunde Fahrt südlich der Hauptstadt liegt die kleine Ortschaft Muungoni. Dort steuert Mohammed Mbarak sein Motorboot tief in einen Meeresarm hinein. Mangroven wachsen am nahen Ufer, Reiher staksen durch das seichte Wasser und picken sich mit ihren Schnäbeln Fische heraus. Dunkle Wolken hängen tief, ein Gewitter droht. Plastikflaschen, die an der Oberfläche schwimmen, markieren die Seetang-Felder im Meer. Hier wächst noch Cottonii. Warum, das kann Flower Msuya nur vermuten: Die Mangroven reduzieren möglicherweise die Wassertemperaturen, und vielleicht spielt der Boden eine Rolle, dennoch sind auch Mbaraks Ernten gefährdet. Der 56-Jährige hebt jetzt eine der Schnüre mit Cottonii aus dem Wasser. In den Thalli hat sich eine andere, eher an Gras erinnernde Alge verheddert. Vorsichtig muss der Bauer seinen Tang davon befreien, das ist mühevoll. Die Flut spült solche Epiphyten oder Aufsitzer an, wird der Tang davon bedeckt, droht er unter Umständen zu verrotten, auch wird die Photosynthese gedrosselt und damit sein Wachstum. Mbarak ist froh, dass diese Algen nur saisonal auftreten. Es gebe auch filamentöse Gewächse, die sich durch die Oberfläche des Tangs bohren und somit das Eindringen von Mikroorganismen begünstigen. Ganze Ernten gehen gar an das „Ice-Ice-Syndrom“ verloren: Teile des Thallus bleichen aus, werden weiß wie Eis. „Die betroffenen Stellen lösen sich einfach auf. Teile der Algen brechen ab und werden davongetrieben“, erklärt Msuya. Das Phänomen wird auf eine Kombination von Stressfaktoren wie Veränderungen der Wassertemperatur und des Salzgehaltes und einem darauf folgenden Befall opportunistischer Bakterien zurückgeführt. Laut der Meeresbiologin Elizabeth Cottier-Cook gehen jedes Jahr weltweit bis zu zwanzig Prozent der Algenproduktion an Krankheiten verloren. Ganze Plantagen können daran zugrunde gehen, vor allem wenn es sich um Monokulturen handelt, in denen die genetische Vielfalt fehlt.
Das ist in Tansania leider meist der Fall. Die Tangfarmer benutzen wieder und wieder Stücke geernteter Algen, um ihre Felder neu zu bestellen. Hin und wieder werden neue Stecklinge und – als Ersatz für Cottonii – neue Arten wie Kappaphycus striatus von den Philippinen importiert. „In China und Korea gibt es bereits riesige Algenzuchten, die von der Regierung finanziert werden“, sagt Cottier-Cook. Bauern werden von dort mit Schnüren versorgt, an denen winzige Algensetzlinge haften, die dann auf den Plantagen heranwachsen können. Auf diese Weise kann der Genpool erweitert werden. Zusätzlich verhindern strikte Kontrollen die Verbreitung von Krankheiten, Bakterien und filamentösen Algen, und es können Sorten gezüchtet werden, die weniger anfällig auf sich verändernde Umweltbedingungen und resistenter gegen Krankheiten sind. Auf Sansibar soll es eines Tages ebenfalls eine solche Zucht geben, wenn sich Flower Msuyas Hoffnungen erfüllen. Sie gehörte zum Team des Global Seaweed Star Programme: Dieses von der britischen Regierung über vier Jahre finanzierte Projekt, das von Cottier-Cook geleitet wurde und 2021 zu Ende ging, brachte Wissenschaftler, Ökonomen und Politiker aus Ländern wie Tansania, Malaysia und den Philippinen zusammen, um durch den internationalen Austausch mehr Forschungsexpertise und auch Kapazitäten für nachhaltige Algen-Aquakulturen aufzubauen.
„Cottonii tanzt gerne im Wasser“, fasst Hamadi Ali Ali sein Wissen in einfachen Worten zusammen. Er lebt als Seetangfarmer in dem Dorf Makangale auf der nördlichen Hauptinsel Pemba, wo der Großteil von Sansibars Algen angebaut wird. Vom Rand seines kleinen Motorboots springt er, ausgerüstet mit Taucherbrille und Schnorchel, in die türkisblauen Wogen und taucht zwei, drei Meter in die Tiefe zu seinem Feld, auf dem nur Cottonii wächst. Eine Konstruktion aus Sandsäcken, die schwer am Meeresboden liegen, und leeren Plastikflaschen, die an der Wasseroberfläche auf und ab hüpfen, hält die Nylonschnüre mit dem Tang in einer bestimmten Tiefe. Das Wasser ist kühler als in Strandnähe, und die wertvollere Algensorte gedeiht hier noch gut. Die Thalli haben erst das Format von Kohlköpfen. Doch schon bald werde hier ein Wald sein, sagt Ali Ali. Pro Monat verdient er mit dem Tang zwischen 200.000 bis 300.000 tansanische Schillinge, das sind 80 bis 120 Euro – und etwa so viel, wie er durch einen Job in einem Hotel bekommen würde. Doch Ali Ali zieht das Meer vor, wie die meisten Inselbewohner; er kann sich die Zeit selbst einteilen und nebenbei noch mit Fischen oder der Oktopus-Jagd etwas einnehmen.
Der 32-Jährige hat eine ruhige Stelle für sein Feld gefunden, wo Cottonii gut gedeihen kann. Denn auch tiefere Gewässer haben ihre Tücken für den Anbau, weiß Flower Msuya: „Sind die Wellen zu stark, brechen die Algen ab.“ Mit den Algenfarmern hat die Forscherin verschiedene Methoden getestet, um den Tang vor starkem Seegang zu schützen, zum Beispiel mit Konstruktionen aus Bambus und Körben aus Nylon. Nichts wollte so richtig funktionieren, doch dann traf Msuya bei einem Symposium in Indonesien auf eine brasilianische Forscherin, die ihr den Tipp gab, schlauchförmige Netze auszuprobieren, die wie ein Strumpf über alle Thalli an einer Schnur gezogen werden. „Selbst bei Sturm oder starken Wellen bleiben die Gewächse darin weitgehend unversehrt“, sagt Msuya. Sie zeigte Bäuerinnen auch, wie sich die Schläuche aus Fischernetzen nähen lassen. Diese gebe es hier zur Genüge, und man müsse nicht extra Material importieren. Bisher sind diese Schlauchnetze erst in zwei Dörfern im Einsatz. Nun heißt es, die Methode auf ganz Sansibar publik zu machen. Allerdings sind Netze nicht die einzige Investition, die Bauern für Felder in tieferen Lagen in Angriff nehmen müssen. Und der Anbau dort bringt weitere Probleme mit sich.
Im Vergleich zum tansanischen Festland ist das Leben der Bewohner Sansibars noch deutlich konservativer geprägt. Traditionell bleiben die Frauen zu Hause, kümmern sich um Heim und Familie. Als Flower Msuya Ende der 1980er-Jahre aus der Hafenstadt Daressalam, wo sie studiert hatte, auf die Insel Unguja kam, war es nicht leicht für sie, akzeptiert zu werden, weil sie eine arbeitende Frau war und noch dazu keine Muslimin. Obwohl heute überwiegend Frauen den Seetanganbau betreiben, stießen diese anfangs auf Widerstand. „Das Meer war zuvor allein das Revier der Männer“, sagt Msuya. Welche Machtprobe das bedeuten kann, hat auch Fatma Muhamad, die wie der Cottonii-Kenner Ali Ali in Makangale lebt, erfahren müssen, aber sie gab nicht auf. Als sie vor sechzehn Jahren mit dem Anbau anfing, musste sie sich gegen ihren Mann durchsetzen. „Aber als er sah, wie viel ich dabei verdiene, hat er sich nicht mehr eingemischt“, sagt die 44-Jährige. Heute kann sie ihre sechs Kinder bei Bedarf im Krankenhaus behandeln lassen, ihnen neue Kleider und Schuluniformen kaufen. Auf der Inselgruppe, wo 26 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, keine Selbstverständlichkeit.
Manche Männer stiegen in das lukrative Geschäft mit ein, halfen ihren Frauen. „Wir werden heute mehr respektiert, weil wir zum Einkommen beitragen, und wir werden nach unserer Meinung gefragt“, sagt Fatma Muhamad. Die veränderten klimatischen Bedingungen machen den Frauen nun allerdings einen Strich durch die Rechnung: Strandnah bei Ebbe ins flache Meer zu waten, das sei eine Sache, doch im tiefen Wasser zu tauchen eine ganz andere – der Großteil der Frauen könne nicht schwimmen. Außerdem brauche man für die Arbeit im tieferen Wasser ein Motorboot – das sei Männersache. Abhilfe können da Schwimmkurse bieten, die bereits in fünf Dörfern für je zehn Algenfarmerinnen stattgefunden haben, unterstützt von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen. Die Nachfrage sei groß, stellt Flower Msuya fest, und: „Die Frauen verlegen ihre Farmen freiwillig ins tiefe Wasser. Sie verlieren immer mehr ihre Angst. Die Bäuerinnen haben die kulturelle Barriere bereits überwunden.“
Der Algenfarmer Hamadi Ali Ali setzt Schnorchel und Taucherbrille ab und hievt sich zurück ins Motorboot. Er hat alle Algen sorgfältig kontrolliert. Das macht er regelmäßig, denn von Krankheitserregern befallene Pflanzen müssen entfernt, lose Schnüre wieder verknotet werden. Ein paar Tage zuvor hatte ein Fischer mit seinem Netz einen Teil des Algenfelds zerstört. Beide Parteien mussten beim lokalen Chief vorstellig werden, um den Streit zu schlichten. „Der Fischer muss jetzt eine Wiedergutmachung zahlen“, erklärt Ali Ali. Auch Mwanaisha Makame Simai aus Paje erzählt, dass es immer wieder zu Konflikten komme, nicht nur mit Fischern, sondern auch mit Hoteliers.
Die Bäuerin weist ihre Besucher auf die Hotels, Guest Houses, Restaurants und Kitesurfschulen hin, die sich am langen weißen Strand vor ihrem Algenfeld eng aneinanderreihen; zwei weitere Gebäude sind gerade im Bau. Sansibar zieht jedes Jahr mehr Touristen an, 2019, bevor die Pandemie die Reisebranche weltweit zum Erliegen brachte, kamen mehr als eine halbe Million Gäste hierher. Die weißen Sandstrände von Paje sind besonders beliebt, unzählige Urlauber liegen hier in der Sonne, wandern den Strand auf und ab, stehen bei Ebbe im warmen Meerwasser; mit der Flut kommen die Kitesurfer. Manch ein Hotelier beschwert sich über die Holzpflöcke der Algenfarmen, die bei Ebbe aus dem Wasser ragen, weil diese die Optik stören würden und eine Gefahr für die Schwimmer seien. Und hier landen nicht nur Fischerboote in den Algenschnüren, sondern auch Kitesurfer, und es bleibt immer weniger Platz, um den Seetang in der Sonne zu trocknen.
„Wir wissen von diesen Konflikten. Der Ursprung des Problems liegt im Fehlen einer maritimen Raumordnung“, sagt Salim Mohammed Hamza, der in der Stadt Wete auf Pemba das Ministerium für „blaue Wirtschaft“ leitet. „Wir brauchen diese, damit jeder sein eigenes Gebiet zugeteilt bekommt, wo er seinen Aktivitäten nachgehen kann. Im Moment treffen Fischer, Algenbauern und Touristen alle an denselben Orten aufeinander.“ Das Ministerium wurde 2020 unter der neuen Regierung von Hussein Ali Mwinyi gegründet und legt einen Fokus auf alle Wirtschaftszweige, die mit dem Meer zu tun haben, ob Fisch, Algen oder andere Aquakulturen, Tourismus, Öl und Gas. „Wir sind hier auf einer Insel, die ist umgeben vom Wasser, 95 Prozent der Menschen hier leben vom Meer“, sagt Hamza. Und die Regierung unterstützt die Algenfarmer mit Subventionen in Form von kleinen Booten, Schnüren und Pflöcken, bietet Workshops an. Nicht nur mit dem Ziel, vor allem größere Ernten einzufahren. Ein weiteres Anliegen ist, den Algenanbau möglichst nachhaltig zu gestalten.
„Die Bauern haben die Art und Weise des Anbaus von den vorhergehenden Generationen übernommen, und das waren nicht immer die besten Methoden“, erklärt Mondy Muhando. Die Meeresökologin, die ihr Masterstudium 2019 an der Universität in Bremen abgeschlossen hat, arbeitet für die Regierung und berät nebenbei die Umweltorganisation The Nature Conservancy in einem Projekt, das der Carrageen-Hersteller Cargill finanziert. Eine Algenfarm am falschen Ort könne viel Schaden anrichten, wenn die Bauern ihre Schnüre an Korallen befestigen, auf diesen herumtrampeln oder Seegras ausreißen, in der irrigen Annahme, dass es das Wachstum ihrer Algen stören könnte. Doch dabei handelt es sich um wichtige Lebensräume, werden diese zerstört, wirkt sich das unter anderem auf die Fischbestände aus. „Wir bringen ihnen jetzt bei, auf was sie bei der Wahl der Stellen für ihre Felder achten müssen, damit einerseits die Algen gut gedeihen, andererseits die Umwelt geschützt wird“, sagt Muhando.
Um die Branche profitabler zu machen, plant die Regierung außerdem, die Algen auf Sansibar direkt zu verarbeiten. Bisher werden die gesammelten Thalli nach der Ernte getrocknet, verschifft und im Ausland weiterverarbeitet, im Fall von Spinosum und Cottonii überwiegend zu Carrageen. „Die Regierung hat beschlossen, dass wir diesen Bauern helfen müssen, und so ist die Idee entstanden, dass wir hier eine Industrie aufbauen“, sagt Salim Mohammed Hamza. Auf diese Weise könne man die Wertschöpfung auf der Insel verbessern und den Bauern bessere Preise für ihre Algen bezahlen. Der Bau für eine Anlage, die Carrageen aus den Algen gewinnt mit einer Kapazität von 30.000 Tonnen Trockenmaterial pro Jahr, soll laut Hamza in ein paar Monaten beginnen, die Finanzierung durch die Regierung steht.
„Wenn man sich die Algenindustrie anschaut, dann ist es nicht der richtige Zeitpunkt, eine solche Anlage zu bauen“, sagt hingegen Hamil Soud, Geschäftsführer der C-Weed Corporation, nach eigenen Angaben der größte Algen-Exporteur Tansanias. Um diese Anlage auszulasten, brauche man genügend Rohmaterial, aber die Algenproduktion auf Sansibar sinke. Nach Meinung von Soud nicht nur wegen des Klimawandels, sondern auch wegen eines schlechten Investitionsklimas auf Sansibar, wegen hoher Abgaben, Zölle – und Korruption. Einige Exportfirmen haben ihr Geschäft auf den Inseln bereits aufgegeben. Zwar scheint die neue Regierung ihren Fokus auf den blauen Wirtschaftszweig ernst zu nehmen. Doch „es sind Politiker, und die wissen nicht viel über Business. Die haben ihren Blick auf die nächste Wahl, sie suchen nach Wählerstimmen“, sagt der Unternehmer. Bevor sie eine Anlage bauten, müssten sie erst einmal versuchen, die Produktion zu erhöhen. Stelle sich ein Politiker hin und sage, die Preise für die Algen seien nicht akzeptabel oder dass die Industrie die Bauern ausnutze, bringe das nichts. „Sie müssen das recherchieren und sich ansehen, was in anderen Ländern los ist. Was sind die Produktionsprognosen dort, wie hoch sind die Algenpreise weltweit? Was bekommen die Bauern in anderen Ländern bezahlt? Wir müssen faire Preise an die Algenbauern zahlen, gleichzeitig müssen wir auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben, um die Branche aufrechtzuerhalten“, sagt Soud. Indonesien und die Philippinen hätten einen klaren Vorteil, betrachte man allein das Ausmaß an geeigneten Anbauflächen, hinzu komme die Nähe zu China, einem wichtigen Absatzmarkt. Ein Schritt auf dem Weg in die Zukunft sei nun, dass die Farmer auf Sansibar ihre Anbaumethoden effizienter gestalten, sodass sie zwar die gleiche Arbeitszeit investieren, aber in dieser mehr produzieren, mehr verkaufen und dadurch ein höheres Einkommen erzielen. Und auch die Firma C-Weed unterstützt die Bauern mit Rat, Material und Training. Ihr Tipp ist etwa der Einsatz doppelter Schleifen, um so an einer Schnur mehr Seetang zu befestigen. Im Gegenzug dazu müssen die Bauern der Firma die Algen zum gängigen Marktpreis verkaufen. Es gebe Familien auf Pemba, die im Monat zwei Tonnen produzierten, sagt Soud. „Diese Bauern verlangen nie nach höheren Preisen. Sie fragen uns nach mehr Input, Booten und Erntehilfe.“
Dass die Algenbauern mehr Geld verdienen, dieses Ziel will auch Flower Msuya erreichen, nur auf andere Weise. Sie setzt auf die lokale Verarbeitung des mineralienreichen Seetangs – zu Seifen, Shampoos oder Lotionen. Algen werden als gesunde Zutat in Säften, Salaten, Eintöpfen gepriesen und zu Pulver verarbeitet, das man Speisen beimischen kann. Seit 2006 organisiert Msuya in den Küstendörfern auf Unguja und Pemba entsprechende Workshops. Anfangs wurde ihr Engagement belächelt, heute sind die Kurse gefragt, und auf Sansibar stellen nun rund dreißig Kooperativen Produkte aus Algen her. In den engen Gassen von Stone Town sind diese in Boutiquen zu finden, Touristen können aber auch die Werkstätten besuchen und direkt dort einkaufen.
Mwanaisha Makame Simai aus Paje gehört einer solchen Kooperative an und teilt ihr Wissen mit anderen Seetangbäuerinnen, gibt etwa mit Flower Msuya Workshops. Obwohl das Geschäft mit den Algen nicht mehr so gut läuft wie in der Vergangenheit und ihr die Probleme bewusst sind, mit denen die Branche zu kämpfen hat, bleibt sie zuversichtlich. Immerhin haben die Algen ihr über all die Jahre ein gutes Einkommen beschert. Sie konnte ein Haus bauen, das sie vermietet, und ihre Kinder durch die Schule bringen, der Tochter sogar ein Studium ermöglichen. „Ich bin von niemandem abhängig“, sagt Makame Simai, „auch von meinem Mann nicht.“
Blatt für Blatt
Mit diesem „European Development Journalism Grant“ wird das F.A.S.-Wissenschaftsressort im Team mit freien Autoren und Fotografen in den kommenden Monaten das Projekt „Baumpalaver“ verfolgen, das daran angelehnt ist, dass sogenannte Palaverbäume traditionell das Zentrum afrikanischer Dörfer darstellen. Mit einer Artikel-Serie wollen wir, in loser Folge, den Blick auf Bäume an sich lenken, deren Funktion und Bedeutung für uns Menschen deutlich machen. Nicht nur als Instrument im Kampf gegen den Klimawandel, sondern auch als Hilfsmittel, mit dem Menschen ihren Lebensstandard, ihre Gesundheit und ihre Umwelt nachhaltig verbessern können: Wie tragen Wälder zu unser aller Gesundheit und Wohlbefinden bei? Was passiert mit Dörfern oder Städten, denen es an Bäumen mangelt? Und wie hängen Ökosysteme zusammen, gerade in Anbetracht von Epidemien, wenn Menschen zunehmend in die Lebensräume von Tieren und Pflanzen eindringen, Wälder zerstören?
All diesen Fragen möchten wir in verschiedenen Ländern nachgehen und in Reportagen Menschen vorstellen, deren Ideen die Entwicklung ihrer Gemeinschaften, Dörfer und Städte nachhaltig vorantreiben.
Sonja Kastilan
Die Reportage ist Teil des „Baumpalaver“-Projekts der F.A.S., die Recherche wurde durch einen „European Development Journalism Grant“ des European Journalism Centre ermöglicht.
Weitere Beiträge aus dieser Reihe sind online unter www.faz.net/wald zu finden.
Quelle: F.A.S.
Veröffentlicht: 03.05.2022 11:08 Uhr
