Impfstoff-Nebenwirkung ADE : Ein Schreckgespenst für die Corona-Impfung
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Antikörper im Blut: Hier für einen Antikörpertest im Labor. Bild: AFP
Einer der am weitesten entwickelten Covid-19-Impfstoff-Kandidaten ist wegen eines „unerklärlichen Krankheitsfalls“ auf Eis gelegt worden. Das muss keineswegs eine Folge der Impfung sein. Doch begleitet derzeit die Sorge vor einer gefürchteten Nebenwirkung namens ADE alle Tests.
Eine Entzündung des Rückenmarks, typischerweise ausgelöst durch eine schwere Virusinfektion, das ist die Art von schwerer Komplikationen, die unmittelbar nach einer Impfung besser nicht auftreten sollte. Und doch hat es einen Freiwilligen im Zuge der Impf-Zulassungsstudie der Oxford-Universität und der britischen Pharmafirma AstraZeneca getroffen. Es ist überhaupt das erste Mal in den seit April laufenden Impfstoff-Studien, dass im Zusammenhang mit einer Covid-19-Impfung eine so gravierende Komplikation aufgetreten ist. Es ist auch nach wie vor unklar, wieso die Rückenmarksentzündung entstanden ist: Ob sich die Krankheit vorher bereits entwickelt hatte. Ob sie also überhaupt von dem Impfstoff ausgelöst worden sein kann, oder ob die Impfung und die daraus resultierende Immunreaktion die Entzündung möglicherweise forciert hat. All das wird jetzt geprüft, und solange müssen die Impfungen von Tausenden weiteren Probanden warten.
Der britische Impfstoff-Kandidat, an dem sich die Bundesregierung in Berlin schon vor Wochen vorsorglich Millionen Dosen vertraglich gesichert hat, galt bislang als Top-Favorit für die erste Corona-Impfstoff-Zulassung. Erstens, weil die Briten am schnellsten in die Entwicklung der Vakzin-Plattform eingestiegen und auch früh eine enge Kooperation mit dem Industriepartner eingegangen sind.
Ihr Impfstoff zielt auf eine bestimmte Stelle im „Stachel“-(Spike-)Protein des Sars-CoV-2-Virus. Die dazugehörige Geninformation, die am Ende die gewünschte Immunreaktion im menschlichen Körper erzeugen soll, wird ähnlich wie bei chinesischen Impfstoffen in einen harmlosen Erkältungsvirus – Adenoviren – verpackt. Ein Adenovirus, das ursprünglich aus Schimpansen stammt. Da sich dieser Erkältungserreger von den menschlichen Adenoviren molekular um einiges unterscheidet, hofft man, unerwünschte „Kreuzreaktionen“ zu vermeiden. Menschliche Adenoviren könnten nach dem Eintritt in den Körper nämlich zu schnell von bereits vorhandenen Antikörpern oder Immunzellen eliminiert werden, die bei einem Großteil der Menschen aus früheren Adenoviren-Infektionen noch im Blut zirkulieren. Solche Kreuzreaktionen und Rest-Immunitäten können die Effektivität des Impfstoffs erheblich reduzieren.
Die Zuhilfenahme der Schimpansen-Adenovirenhülle löst also ein entscheidendes Problem. Ein anderes aber, was die Sicherheit des Impfstoffs betrifft, löst das nicht. Und es ist mutmaßlich auch bei keinem anderen der inzwischen 32 Impfstoffkandidaten in klinischen Tests vorab zu lösen: Es geht um die Möglichkeit einer sogenannten Antikörper-abhängigen Verstärkung, abgekürzt: ADE (Antibody Dependant Enhancement) – gewissermaßen der immunologischer Erdrutsch. Zugegeben allerdings auch eine seltene Nebenwirkung. Es handelt sich um eine Reaktion des Immunsystems, die praktisch unvorhersehbar bei einigen Infektionen auftreten kann, aber eben auch durch die stark abgemilderten, künstlichen Entzündungsprozesse, die eine Impfung nun einmal auslöst.
In den ersten beiden klinischen Testphasen mit dem britischen Impfstoff an einigen Dutzend Freiwilligen war davon nichts zu sehen. An Nebenwirkungen aufgetreten waren den Aussagen der Probanden zufolge, wenn überhaupt, lokale Reaktionen, Rötungen der Haut, leichte Schwellungen, Schmerzen, auch Fieber, Muskelschmerzen oder Kopfweh. Nichts, so beschreiben es die Wissenschaftler in der Medizinzeitschrift „Lancet“, was länger anhält und sich nicht medikamentös gut behandeln ließe. An eine ADE hat man da noch nicht gedacht. Dass diese durchaus bedrohliche Immunreaktion als Kollateralschaden einer Impfung auftauchen kann, wurde von Immunologen, Virologen und Infektiologen allerdings immer wieder diskutiert – und auch eigentlich erst in der jetzigen klinischen Prüfphase 3 erwartet, wenn pro Impfstoff-Kandidaten jeweils Zehntausend Freiwillige sich impfen lassen. Die tatsächliche Sicherheit einer Vakzine lässt sich überhaupt erst bei so großen Stichproben (und manchmal erst in der Nachzulassungsbeobachtung) erkennen, weil ihr Auftreten von individuellen, auch genetischen und sozialen Besonderheiten abhängt und deshalb mit statistischer Sicherheit oft erst spät in der Zulassungsphase erkennbar wird.
Wie konkret das Risiko einer ADE bei einer Covid-19-Infektion ist, geschweige denn bei einer Impfung, gehört zu den großen Unbekannten dieser Pandemie. Vor kurzem haben das die kalifornische Immunologin Ann Arvin und ihre Kollegen von der Stanford University School of Medicine in „Nature“ beschrieben. Nach den Erfahrungen aus den Impfstoff-Entwicklungen gegen Grippe-Viren oder dem Dengue-Erreger lassen sich aus den Zellkultur- und Tierexperimenten keinerlei Anhaltspunkte für die Vorhersagbarkeit einer ADE ableiten. Das Risiko ist vorher schlicht unbekannt. Es gibt auch keine Moleküle im Blut, Biomarker, die auf eine sich anbahnende ADE hinweisen. Der Grund ist, dass ADE selbst aus der Immunreaktion des Körpers auf den Erreger – oder eben auf den Impfstoff – resultiert. Die von B-Immunzellen gebildeten Antikörper, die normalerweise das Virus attackieren sollen, tun genau das Gegenteil. Sie erleichtern dem Virus den Eintritt in die menschlichen Zellen und beschleunigen damit die Vermehrung des Krankheitserregers. ADE verschlimmert die Krankheit statt sie zu lindern.
Jahrzehntelang hat es nach der Erstbeschreibung von Antikörpern vor etwa hundert Jahren gedauert, bis man auf diese unerwünschte Nebenwirkung der Antikörper-Reaktion gekommen war. Heute ist es das Horrorszenario für die Entwickler und Produzenten von Impfstoffen. Inzwischen ist nämlich klar, dass Antikörper nicht nur Erreger direkt eliminieren, sondern eine ganze Reihe und sehr komplexe Immunreaktionen einleiten, an denen zahlreiche andere Immunzellen beteiligt sind. Was genau die Ursachen für die fehlgeleiteten Antikörper-Reaktionen bei einem ADE sind, ist immer noch im Dunkeln. Hinweise gibt es einige: Manchmal sind es Antikörper, die zu schwach sind, den Virus zu eliminieren, aber dennoch an ihn binden und so den Weg zur Körperzelle erleichtern. Spekuliert wird auch, ob es ein Mengenproblem ist: Zu wenige Antikörper stehen zu vielen Erregern gegenüber. Und offenbar sind es manchmal Antikörper, die schwach an den Infektionserreger binden. Das führt zu den Kreuzreaktionen gegen die Oxforder Impfstoff-Adenoviren. Eine Hypothese für die ADE-Reaktion führt nämlich auch schwach bindende Antikörper an, die eigentlich gar nicht gegen den Infektionserreger beziehungsweise das Impfstoff-Antigen gerichtet sind, sondern gegen verwandte Viren, die nur ähnlich, aber nicht das gleiche sind. Auch solche Antikörper könnten, wenn sie das Virus nicht effektiv neutralisieren, das Immunsystem auf die schiefe Bahn bringen.
Noch ist allerdings völlig unklar, ob dieser Fall bei dem erkrankten Probanden der britischen Impfstudie eingetreten ist. Und darüber, wie groß das ADE-Risiko bei anderen Impfstoffen wie den von den deutschen Biotechfirmen entwickelten auf RNA-Basis ist, lässt sich momentan wohl auch noch nichts sagen. Das zeigen die Erfahrungen der Impfstoffentwickler mit diversen anderen Infektionserregern.