Losgelöst von der Schwerkraft
Von SONJA KASTILAN
17. Februar 2020 · Gewächshäuser im Weltraum – die wünscht sich die Raumfahrt. Wie aber Pflanzen mit der Erdanziehung umgehen und ob sie auf Dauer ohne gedeihen, ist ein Rätsel. Um das zu erforschen, experimentieren Wissenschaftler auf Parabelflügen. Sie arbeiten dabei 22 Sekunden in der Schwebe und das 31 Mal, erleben aber auch fast der Doppelte der Erdanziehung.
Z uerst hieß es nur, wir drehen um. Ein technisches Problem, nichts Gravierendes. Unter uns der Atlantik, vorne rechts die Bretagne, nun ging der Flug zurück nach Bordeaux. Überall lange Gesichter, und Dario Ricciardi, der vor einer koffergroßen Box kniete, verlor jedes Lächeln. Von seiner Begeisterung, einmal selbst das Experiment zu begleiten, das er über Monate im „Zero Gravity Lab“ der Goethe-Universität Frankfurt mitvorbereitet hatte, war nichts mehr zu spüren.
Am frühen Morgen hatte der Student sechzehn Platten mit Pflanzennachwuchs ins Gehäuse eingesetzt, je achtzehn Schrauben angezogen, den Durchfluss gestartet und das System geschlossen. Sein plötzlich ernstes Gesicht verriet die Anspannung. Mit der vagen Hoffnung, dass der dritte und letzte Flugtag doch noch ein Erfolg werden könnte. Nur später. Am Nachmittag vielleicht? Es war der 12. September, ein Donnerstag, morgens kurz nach halb zehn. Über weiße Polsterflächen schlichen wir nach hinten zu den wenigen Sitzreihen, von denen wir uns gerade erst gelöst hatten. Vorbei an geheimnisvollen Kästen mit allerlei Knöpfen, Säulen, Kabeln, Klebebändern, Warnhinweisen – Hochtechnologie mit dem Flair von Selbstgebasteltem, mehr „Big Bang Theory“ als „Space Odyssey“.
Es waren die Projekte von vierzehn Forschungsgruppen, deren Maskottchen traurig an fensterlosen Wänden baumelten. Wäre alles nach Plan gelaufen, hätten wir Eule, Hase, Frosch, Faultier – einen ganzen Zoo aus Plüsch nebst Papierfliegern bald in der Schwebe gesehen; festgebunden, sonst würden sie zu Geschossen. Für das Frankfurter Team war Frédéric, eine Fledermaus, als Glücksbringer am Start. Nicht zum ersten Mal, und an den ersten beiden Flugtagen der 34. Parabelflugkampagne des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR) lief wieder alles glatt, auch für die Frankfurter Biologen und ihre Pflanzen-Box. Wie es sich für ein Jubiläum gehört: Seit 1999 führt das DLR eigene Parabelflugkampagnen durch. Zwanzig Jahre Forschung in Schwerelosigkeit – oder mit einer geringeren Gravitationswirkung, wie sie auf Mond oder Mars herrscht. Seit 2015 wird dafür ein Airbus A310 genutzt, der 1989 seinen Jungfernflug hatte und zeitweise als Kanzler-Airbus „Konrad Adenauer“ der Flugbereitschaft diente, bevor er zum „ZERO-G“ umgerüstet wurde.

Eine Parabel von Anfang bis Ende dauert etwa drei Minuten
Beginn der Schwerelosigkeit
(Injection point)
Ende der Schwerelosigkeit
(Recovery point)
50°
42°
37°
Null-G-Parabel
42°
38°
30°
Marsparabel
Mondparabel
1,8 g
ungefähr 0 g
1,8 g
Hyper-Schwerkraft
20 19 17 Sekunden
Schwerelosigkeit
22 23 30 Sekunden
Hyper-Schwerkraft
20 19 17 Sekunden
g=Erdanziehung (9,81 m/s²);
Quelle: DLR / F.A.Z.-Bearbeitung joth., sie.

Eine Parabel von Anfang bis Ende dauert etwa drei Minuten
Beginn der Schwerelosigkeit
(Injection point)
Ende der Schwerelosigkeit
(Recovery point)
Flughöhe in Meter
8500 8000 8000
Geschwindigkeit in km/h
370 470 480
Null-G-Parabel
50°
42°
37°
42°
38°
30°
Marsparabel
7600 7200 7200
570 580 610
Mondparabel
1,8 g
ungefähr 0 g
1,8 g
6100m
825 km/h
Hyper-Schwerkraft
20 19 17 Sekunden
Schwerelosigkeit
22 23 30 Sekunden
Hyper-Schwerkraft
20 19 17 Sekunden
g=Erdanziehung (9,81 m/s²) / Quelle: DLR / F.A.Z.-Bearbeitung joth., sie.
Zweiundzwanzig Sekunden lang ist die Erdanziehung praktisch aufgehoben, wird eine perfekt gesteuerte Parabel geflogen. Drei Minuten dauert eine solche Phase von Anfang bis Ende, insgesamt 31 pro Sequenz sind vorgesehen, mit kurzen Pausen, etwa zum Justieren der Testgeräte. Dafür muss das vierköpfige Team von Flugkapitän Éric Delesalle über mehrere Stunden hoch konzentriert arbeiten: Zu dritt gilt es im Cockpit, nicht nur Turbulenzen auszugleichen, sondern die Winkel akkurat zu fliegen, um möglichst Zero G zu erreichen. Scopolamin, ein Mittel, das uns Passagieren den Wechsel zwischen null und bis zu 1,8 g, der fast doppelten Schwerkraft, erleichtern und Übelkeit verhindern soll, aber die Koordination stören kann, ist für sie Tabu.
Für die Piloten mache es kaum Unterschied, ob Wissenschaftler an Bord seien oder Privatleute, erzählte Delesalle am Nachmittag des ersten Flugtages, man fliege die gleichen Manöver, und Sicherheit gehe vor. Einmal abgesehen davon, scherzte der erfahrene Pilot, dass Forscher unter Umständen auf etwas Komfort verzichten müssten, weil für sie „Performance“ wichtiger sei als der Spaß. Wer eine gute Zeit haben möchte, dem ist es egal, ob er sich 18 oder 20 Sekunden schwerelos fühlen kann. Forscher wollen immer mehr, so ist es Delesalle gewöhnt. Langweilig? Nein, das werde es nie.
Die französische Firma Novespace hält den Airbus in erster Linie für die Wissenschaft oder Astronautentraining am Flughafen Bordeaux-Mérignac bereit, veranstaltet aber auch privat buchbare Ausflüge in die Schwerelosigkeit. Ein Ticket für 6000 Euro ist dafür fast ein Schnäppchen, das Geld kommt so der Wissenschaft zugute, die enorm aufwendig, ein Vielfaches teurer und auf diesen speziellen A310 als Hardware angewiesen ist, zum Beispiel Grundlagenforscher aus dem Feld der Robotik, Aerodynamik, Strömungsmechanik, Raumfahrt oder Neurologie. So reisten für diese 34. DLR-Kampagne beispielsweise Physiker mit schweren Apparaten an, die staubiges oder komplexes Plasma studierten; Weltraummediziner schleppten Prostatakrebszellen mit und die Pflanzenphysiologen eigens einen Brutschrank.
Die Checklisten werden akribisch geführt: Was für die Versuchsreihen im Airbus vergessen wird, lässt sich manchmal von Kollegen an der Universität in Bordeaux leihen, auf einer Reise ins All mangelt es jedoch an Alternativen, Ersatzteile sind rar. Und je stabiler das System – und einfacher zu bedienen, desto besser. Auch darüber tauschte man sich in der Vorbereitungswoche aus und half sich gegenseitig, denn egal auf welches Gebiet die Teilnehmer spezialisiert waren, sie alle suchen technische Lösungen für überraschend ähnliche Probleme.
Größere Schwierigkeiten traten nie auf, bis an diesem Septembermorgen die Windschutzscheibe hoch über dem Meer schwächelte und eine ihrer Schichten ein schrecklich schönes Rissmuster bildete. Ersatz musste her, und bevor das Flugzeug erneut abheben durfte, würden wohl Tage vergehen. Sonntag, hieß es dann, und alle Pläne wurden umgeworfen. Wer irgend konnte, verschob Heimfahrt und Blockpraktikum, verlängerte Mietwagen und Unterkunft, suchte finanzielle Förderung. Setzte alles daran, einmal mehr Daten zu gewinnen und die teils unwiederholbaren Versuche zu retten. Unproblematisch im Falle des Plasmas, für die Krebszellen ging aber das Medium zur Neige, und auch für Dario Ricciardi und die IMPACT-Box bedeutete es das Aus: 10 000 Pflanzen im geeigneten Alter ließen sich nicht einfach frisch herbeizaubern; Arabidopsis thaliana wächst schnell, trotzdem blieb zu wenig Zeit. Schon nach der ersten Parabel wäre dieses Experiment beendet, das sekundenschnelle Einspritzen von Methanol hätte die Pflanzen umgebracht und Prozesse in ihren Wurzeln, einmal völlig losgelöst von der Schwerkraft, konserviert.
Immerhin liegen die Proben der zwei ersten Flugtage sicher auf Eis: „Im Gefrierschrank halten die sich eine Weile, und durch eine zweite Kampagne könnten wir auf die notwendige Anzahl Replikate kommen“, schilderte Maik Böhmer von der Universität Frankfurt das weitere Vorgehen. „Oder wir analysieren gezielt im Vergleich zu den Veränderungen, die wir auf Parabelflügen in den Vorjahren bei Pflanzen des Wildtyps gemessen haben.“ In diesem Forschungsbereich lerne man sich den Gegebenheiten anzupassen und die Analysen daran auszurichten, ohne wissenschaftliche Qualität einzubüßen.
In Bordeaux hieß die Hoffnung aktuell FLUMIAS. In ihrem Behelfslabor bei Novespace konzentrierten sich die aus Deutschland angereisten Biologen auf ihre Versuche mit einem Fluoreszenz-Mikroskop, da auch die dafür verantwortlichen Airbus-Ingenieure ihren Aufenthalt bis zum Wochenende ausdehnen konnten. Nicht einzelne Zellen oder Gewebeschichten waren ihre Objekte: „Das wäre sinnlos bei Pflanzen. Wir wollen keine Artefaktforschung betreiben, sondern beobachten, wie ein mehrzelliger Organismus reagiert“, erklärte Böhmer das Ziel. Da Kalzium als internes Signal eine Schlüsselrolle spielt, testete sein Team und das von Christoph Forreiter aus Marburg spezielle Mutanten, wie die sich verändernde Schwerkraft während des Parabelflugs auf sie auswirkt. Wird Kalzium in der Wurzel frei, verstärkt sich die Fluoreszenz in diesen Bereichen, es leuchtet rot, und allein in Marburg sind dazu jetzt 60 000 Mikroskopbilder auszuwerten. Auch an der Uni Heidelberg dürfte die Postdoktorandin Marjorie Guichard noch eine Weile mit ihren Analysen beschäftigt sein wie Sandra Thiele im Frankfurter Zero Gravity Lab.
Ein Spross wächst nach oben, die Wurzel nach unten. Dass Pflanzen sich nicht nur nach dem Licht richten, sondern sich auch an der Schwerkraft orientieren, ist seit langem bekannt. Gravitropismus nennt sich das, und Stärkekörner dienen dabei als Statolithen und gehorchen der Schwerkraft: „Sie reagieren auf die Erdanziehung, fallen nach unten. Und was dann? Diese vermeintlich schlichte Frage versuchen wir zu beantworten“, sagt Böhmer. Man wisse, was nach dreißig Minuten oder Tagen passiert, aber nicht, was in den ersten sechzig Sekunden der Reaktion geschieht: Wie sieht der Anfang der Signalkaskade aus? Welche Rezeptoren, welche Enzyme sind beteiligt? Das sind Fragen, die Zellbiologen umtreiben, denn es gilt einige Lücken in der Reaktionskette zu schließen, auch im Interesse der Züchter: Wenn Stürme künftig öfter die Felder niederdrücken, ist es nützlich zu wissen, was Pflanzen hilft, sich wieder aufzurichten, entsprechend können passende Sorten gesucht und selektioniert werden.
Für Pflanzen bedeutet das Stress, vergleichbar mit Trockenheit und Hitze, und womöglich ist die molekulare Reaktion in jedem dieser Notfälle anfangs gleich. Die Basis ist noch nicht gefunden, aber: „Wir wollen die Signalkaskade entschlüsseln und verstehen, wie das Zusammenspiel einzelner Prozesse gelingt“, sagt Böhmer. Während sich Tomaten etwa für Hitzetests eignen, wird Schwerkraft am Modell der inzwischen gut erforschten Arabidopsis untersucht. Ob es vernünftig wäre, gegebenenfalls einzugreifen, lässt sich nur klären, wenn man die Mechanismen kennt. „Wir sind keine Züchter, liefern allerdings entscheidende Grundlagen“, fasst es Böhmer zusammen. Sollten nebenbei geeignete Pflanzensorten für den Anbau bei geringerer Schwerkraft auf Mond oder Mars herauskommen, sei das natürlich toll, aber nicht die Aufgabe.
Während sich Böhmer und seine Mitarbeiter grundlegenden Fragen widmen, die eben nicht nur für die Raumfahrt von Bedeutung sind, fordern manche Wissenschaftler, sich lieber auf Nutzpflanzen zu konzentrieren. Anstelle von Arabidopsis gleich Tomaten oder Linsen in der Schwerelosigkeit zu testen. Der Raumfahrtingenieur Paul Zabel zum Beispiel. Er entwickelt Gewächshaussysteme fürs All und wird deshalb in der Antarktis zum Gärtner (siehe „Mit dem Pinsel ...“). „Dass ich nicht so viel von Modellpflanzen halte, beruht darauf, dass die Zeit für Forschung – auf der ISS – sehr begrenzt ist. Die Astronauten haben anderes zu tun. Außerdem ist nur für kleine Pflanzenkammern Platz, und darin würde ich lieber gleich Nutzpflanzen ziehen, um spezifische Probleme anzugehen.“ Sonst müsste man die Versuche später wiederholen und Ergebnisse erst noch vergleichen. Es müsse ja nicht Weizen oder Kartoffeln sein, Salate täten es auch.
Ist irgendwann der Mars das Ziel, steht für die bemannte Raumfahrt außer Frage, dass der Anbau von Pflanzen mehr als nur willkommen wäre. Es bestünde Bedarf an frischen vitaminreichen Lebensmitteln, während Eingelagertes auf Dauer doch an Nährwert verliert. Auch als Sauerstoffproduzenten wären Pflanzen gefragt, denn die Kosten wären enorm, würde eine Crew alles Nötige für ihre Reise mitschleppen, was hin und zurück je nach Szenario mit 500 oder 1000 Tagen dauert. Auf mehr als siebzig Quadratmetern müsste man Grünzeug ziehen, um ein Dreierteam mit Sauerstoff zu versorgen; würde man nur natürliches Licht nutzen, wären 24 Gewächshäuser mit je neunzig Quadratmetern erforderlich, um eine sechsköpfige Marsmission zu unterstützen.
Zuvor muss eine leichter erreichbare Versuchsanstalt im All aufgebaut werden: „Wir sind dabei, ein Gewächshaus für den Mond zu entwerfen“, erklärt Zabel. Dieses soll zunächst in einem typischen Raumfahrtmodul entstehen und später zum Mond geschickt werden. Durch das amerikanische Artemis-Programm sei plötzlich Bewegung in die Raumfahrt gekommen, sowohl politisch als auch technisch: „Spannende Zeiten für uns Ingenieure.“ Vielleicht baue man schon in sechs, sieben Jahren eine Mondstation. Oder doch erst in zwanzig. Lieber langsamer und ordentlich geplant, als übereilt aufzubrechen, so stellt sich Esa-Astronaut Matthias Maurer eine Marsmission vor: mit genügend Raum für Experimente. Er ist Materialwissenschaftler und wünscht sich nachhaltige Technologien für eine solche Exploration. Weil man diese nicht erst dort ausprobieren kann, ist eben der Mond für die Tests das nächste Ziel. „Und etwas Grünes dabei zu haben wäre schön“, meint der Saarländer, der früher nichts für Gartenarbeit übrighatte. Er fliegt als nächster Deutscher ins All und trainiert für einen Einsatz auf der ISS, wo er vielleicht froh ist, wenn er sich um Pflanzen kümmern darf.
Eingeladen zur 34. DLR-Kampagne, ließ sich Maurer an Bord erklären, was sich hinter den abgeschotteten Versuchseinheiten verbarg. Während der französische Esa-Astronaut Thomas Pesquet dem Pilotenteam angehörte, absolvierte Maurer am zweitem Flugtag ein Parabeltraining als Passagier. Einen grünen Daumen habe er nicht, doch er sei neugierig, und als Wissenschaftler wolle er verstehen, worum es in einem Versuch gehe, „nicht nur einen Knopf drücken, wenn ich hochfliege“. Anhand von Detailaufnahmen konnten ihm die Pflanzenphysiologen ihre FLUMIAS-Projekte auch veranschaulichen. Man muss sich nicht für Botanik begeistern, das Konzept dieser fluoreszenzmikroskopischen Analyse ist spannend genug. Wo sonst sieht man Kalzium oszillieren oder zarte Wurzelspitzen in Mikrofluidikchips sitzen?
Und nicht nur Materialwissenschaftler werden das ausgeklügelte Herstellungsverfahren der „RootChips“ zu schätzen wissen, das von Guido Grossmann an der Universität Heidelberg entwickelt wurde. Mittels Photolithographie lassen sich diese aus weichem Silikon so gestalten, dass knapp eine Woche alte Arabidopsis-Pflanzen genügend Platz finden. Ihre Wurzeln legen während des Fluges ein paar Mikrometer zu, und durch die feinen Kanäle fließt ein Nährmedium. Speziell angefertigte Minipumpen halten es stets im Fluss, Stillstand würde die Reaktionen beeinflussen. Ebenso wäre Plastik als Trägermaterial ungeeignet: „Unsere Heidelberger Kollegen haben es ausprobiert und die Kanäle herausgefräst“, sagte Böhmer. Doch die Oberfläche sei zu rau, Wurzeln würden anstoßen und ihr Programm für „Verletzung“ starten. Akut ist das schlimmer als reduzierte Erdanziehungskraft, und die Reaktion würde alles andere übertreffen.
Pflanzen kennen keinen Schwebezustand, im Laufe ihrer Evolution verlor die Erde niemals an Anziehungskraft. Innerhalb von 22 Sekunden ihren seit Jahrmillionen bestehenden Mechanismen auf die Spur zu kommen, kann dennoch gelingen. Allerdings wurde der dritte Flug gestrichen – die Reparatur erwies sich als komplizierter, als anfangs gedacht. Doch die Analysen gehen weiter, und im Frühjahr 2021 können die Frankfurter ihre Pflanzen mit einer Forschungsrakete ins All schicken. IMPACT muss dafür auf die Größe einer Waschmaschinentrommel schrumpfen, die Biologen werden mit fünf Minuten Schwerelosigkeit belohnt. Ruhm kommt später. Vielleicht.
Mit dem Pinsel von Blüte zur Blüte
Interview mit Paul Zabel
Damit auf Mond oder Mars mal etwas wächst, lässt sich Raumfahrtingenieur Paul Zabel so einiges einfallen. Er versucht sich gar als Biene.
D ie Saat für die nächste Wintersaison geht auf. Anfang Januar wurden die Beete im Gewächshaus von Neumayer III, der deutschen Antarktis-Station, frisch bestückt, und wie es den Sämlingen von Petersilie, Schnittlauch, Tomate, Mangold, Grünkohl und anderen Pflanzen in den beiden Schiffscontainern ergeht, lässt sich auf Instagram verfolgen. Stolz präsentiert die Crew dort auch ihre erste Paprika-Ernte und eine beeindruckende Pesto-Ausbeute. Basilikum, damit haben die Forscher des internationalen Eden-ISS-Projekts bisher mehr Erfolg als mit Erdbeeren. Das erzählte der beteiligte Raumfahrtingenieur Paul Zabel Ende November, bevor er in die Antarktis aufbrach, wo er sich bis zum 20. Februar aufhält. Das Gespräch fand am DLR-Institut für Raumfahrtsysteme in Bremen statt, von dem aus sich der Garten Eden mit 12,5 Quadratmeter Anbaufläche im Eis nicht nur beobachten, sondern via Internet und Satellit auch steuern lässt.
Herr Zabel, was wächst dort in der Antarktis an?
Unser Fokus liegt auf Salat- und Gemüsepflanzen, also Blattgemüse. Wir haben schon mehr als zwanzig Arten ausprobiert und arbeiten inzwischen eng mit der Nasa zusammen, nutzen etwa jene Tomatensorte, die von den Kollegen in Florida als die am besten geeignete selektioniert wurde. Und so gehen wir den nächsten Schritt: weg von idealen Laborbedingungen ins Gewächshaus. Mit dabei sind etwa auch Paprika, Pak Choi, Grünkohl und dazu unsere eigene Auswahl für den Mix – mit Kräutern, Radieschen, Gurken sowie schärferen Blattsenfen, die Abwechslung ins Essen bringen.
Die Besatzung der Neumayer III ist sicher froh um EDEN-ISS?
Aus eigener Erfahrung während des Aufbaus 2018 weiß ich, wie schwer es fällt, monatelang ganz ohne frische Lebensmittel auszukommen. Das Essen in der Station ist gut, aber alles kommt getrocknet, gefroren oder in Dosen. Deshalb greifen selbst die größten Salatmuffel zu, wenn nun die Schüssel mit Grünzeug umgeht.
In der Antarktis fehlt es an Grün, da tut Gärtnern vermutlich gut?
Wohltuend ist nicht allein die Farbe, sondern auch der Geruch. In diesem Gewächshaus riecht es nach Natur. Gerade wenn man Basilikumblätter oder Tomaten erntet, duftet es sehr angenehm. Und Astronauten, die auf der ISS mit Pflanzen arbeiten sollen, reißen sich um diese Versuche, es scheint den Menschen gutzutun.
Forscher in der Antarktis mit etwas Natur oder Gemüse zu versorgen, das ist nicht Ihre Aufgabe, oder?
Das ist ein schöner Nebeneffekt, aber tatsächlich testen wir so, wie man Pflanzen im Weltraum anbauen kann. Unser Ziel ist ein Weltraumgewächshaus – wir wollen damit einmal Astronauten ernähren können.
Warum machen Sie das im Eis und nicht in einer entlegenen Wüste?
Die Antarktis ist wie ein Kurztripp zu einem anderen Planeten, ohne dass man die Erde verlassen muss. In ihrer Abgeschiedenheit lassen sich Raumfahrtsysteme perfekt testen, denn es herrschen schwierige Umweltbedingungen, auch die Technik ist herausgefordert. Einmal im Jahr kommt ein Versorgungsschiff und bringt, was man an Lebensmitteln, Medikamenten, Werkzeugen und Ersatzteilen braucht. Man muss also lange warten, auf dem Mond oder dem Mars wäre es ähnlich, eher länger. Natürlich ließe sich das in der Wüste simulieren, die Antarktis bietet den Vorteil, dass Logistik und Infrastruktur existieren, Forschungsplattformen wie die Neumayer-III-Station. Wir konnten unser Modul andocken, mussten nichts extra etablieren.
Die tiefen Temperaturen ...?
... spielen keine große Rolle. Interessant ist, dass außen lebensfeindliche Bedingungen herrschen, Kälte und starke Winde. Das System muss in sich geschlossen sein und gegen die Umwelt abgeschirmt, wie es für die Raumfahrt ebenfalls erforderlich ist.
Hätten Sie sich träumen lassen, mal in der Antarktis zu forschen?
Für Raumfahrtingenieure ist das ungewöhnlich, im Gegensatz zu Zoologen, Glaziologen oder Klimaforschern. Ich bin dort sicherlich ein Exot.
Und mutieren zum Gärtner?
Nun ja, ich war von Anfang an in das Projekt involviert, arbeitete in riesigen Gewächshausanlagen bei unseren Kooperationspartnern in den Niederlanden und erhielt einen Crashkurs. Aus dem Eis heraus habe ich mich dann per Telefon und E-Mail rückversichert, schickte Fotos. Was mich beunruhigte, war aber nie schlimm.
Was steht nun an, wenn Sie in das Gewächshaus zurückkehren?
Wir putzen einmal richtig durch für den Neustart, säen dann aus und lernen die neue Besatzung der Station für die kommende Wintersaison an. Damit die Leute wissen, wie sie mit den Pflanzen umgehen und brauchbare Daten für uns generieren. Außerdem werden einzelne Komponenten ausgetauscht, Filter und Ventile, die sich schwer warten lassen. Den Betrieb in der Antarktis möchten wir noch zwei, drei Jahre aufrechterhalten und gleichzeitig die Gewächshaustechnik verbessern, damit die Ausfälle seltener werden und die Forscher weniger Zeit investieren müssen. Im All ist Zeit knapp, jeder 5-Minuten-Block eines Astronauten sehr wertvoll.
Es gibt vermutlich keinen Boden?
Nein, wir nutzen nur einen kleinen Startblock mit Erde zum Auskeimen. Später hängen die Wurzeln in einer lichtdichten Box in der Luft, werden mit Wasser und Nährstoffen angesprüht. Wir können keine Muttererde in den Weltraum transportieren: Das Gewicht ist zu groß und die Mikrobiologie zu komplex für unsere kleinen, abgeschlossenen Systeme.
Lässt sich der Anbau verbessern?
Die Salatproduktion wollen wir zum Beispiel um fünfzig Prozent steigern. Bisher wurde im Ganzen geerntet, was relativ wenig Arbeit macht, jetzt wollen wir ausprobieren, ob es sinnvoll wäre, einzelne Blätter nach und nach zu pflücken. Das könnte die Ausbeute erhöhen, womöglich muss aber zu viel in die Pflege investiert werden.
Was wurde aus Ihren Erdbeeren?
Wir hatten prächtige Pflanzen und Hunderte von Blüten. Das sah sehr schön aus. Trotzdem kam keine einzige Frucht dabei heraus. Dieses Obst ist süß und vitaminreich, zudem klein und kompakt – wichtig in der Raumfahrt, es fehlt der Platz für Sträucher. Also habe ich mit Pinseln und Wattestäbchen probiert, was sonst Insekten übernehmen, leider funktionierte das nicht so wie in anderen Versuchen. Vermutlich falsches Timing, wenn es um ihre Befruchtung geht, sind Erdbeeren sensibel. Im Labor wollen wir erst das Zeitfenster bestimmen, dann versuchen wir es neu. Die Besatzung soll nicht den gleichen Frust erleben: stundenlang von Blüte zu Blüte gehen, ohne Erfolg. Für den Job der Biene sind wir eben nicht geboren.
Die Fragen stellte Sonja Kastilan.
Multimedia: Johannes Thielen, Bernd Helfert; Videobearbeitung: Andreas Brand, Laura-Sophie Hinz
Quelle: F.A.S.
Veröffentlicht: 17.02.2020 13:49 Uhr
