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Juristische Provenienz : Was denkt ihr denn mit?

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Das Sozialrathaus im Frankfurter Gallusviertel ist ein Ort der Daseinsvorsorge. Bedeutet es für die Rechte der Bürger etwas, dass dieser Begriff von Ernst Forsthoff geprägt wurde? Bild: Picture-Alliance

Wie sollte man mit klassischen juristischen Werken umgehen, deren Autoren antisemitische oder sexistische Ansichten vertreten? Eine Replik zum Provenienz-Problem.

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          Unter dem Titel „Wo denkt ihr denn her?“ hat Klaus Ferdinand Gärditz am 22. Februar auf der Seite Geisteswissenschaften der F.A.Z. das Diskussionsangebot meines Aufsatzes „Das Pro­ve­ni­enz-Pro­blem der Rechtswissenschaften“ (Kritische Justiz, Bd. 55, 2022, Heft 4 / Nomos) an­genommen. Der darin formulierte Vorschlag zielt auf einen reflektierten und problembewussten Umgang mit juristischen „Klassikern“, von denen viele be­kanntermaßen antisemitische, rassistische, sexistische oder andere menschenverachtende Ansichten in ihren Schriften vertraten. Konkreter: Wie umgehen mit Immanuel Kant, Friedrich Carl von Savigny, Carl Schmitt oder Ernst Forsthoff?

          Dies ist zuvörderst eine praktische Frage, keine programmatische. Es wird kein inhaltliches Forschungsprogramm aufgestellt oder eingefordert. Forschung, die für das Themenfeld Antisemitismus/Rassismus/Sexismus und Recht auch Zugriffe „gegenstandsorientierter Ideengeschichte“ bedient, gibt es seit vielen Jahren. Vielmehr diskutiert der Aufsatz, wie wir heute im Sinne guter wissenschaftlicher Praxis mit der problematischen „Provenienz“ juristischen Wissens umgehen können. Der Vorschlag befindet sich damit auf der Ebene der Behandlung, nicht der Diagnose.

          Verschiebung in den Randbereich

          Der vorgeschlagenen Behandlung des Problems widerspricht Gärditz nicht explizit. Vielmehr reduziert er den Anwendungsbereich bis auf „Randbereiche öffentlich-rechtlicher Grundlagenforschung“. Beide Schritte der Reduktion, erstens auf Grundlagenforschung und zweitens auf das Gebiet des Öffentlichen Rechts, verschieben das Provenienz-Pro­blem aber entscheidend. Für die Verbannung des Provenienz-Problems in die Randbereiche der Grundlagenforschung führt Gärditz an, es gehe im Gros rechtswissenschaftlicher Arbeit allein um „punktuelle, konstruktiv-deformative Re­ferenzen einzelner Argumente“. Durch eine funktionsspezifische Rezeption einzelner Konzepte oder Argumente seien diese dank des Rechtspositivismus von etwaigem metaphysischem Ballast „be­freit“.

          Diese Behauptung begründet Gärditz scheinbar mit dem Verweis auf die Rechtspositivisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, die meinten, die rein juristische Methode befreie den modernen Rechtsbetrieb von Politik, Geschichte und Philosophie, so auch von Anschauungen Einzelner. Der Aufsatz regt dagegen an, nicht im blinden Vertrauen auf diese Selbstauskunft der Rechtspositivisten unreflektiert juristisches Wissen zu rezipieren.

          Als Beispiel kann der Begriff der „kommunalen Daseinsvorsorge“ in den Ge­meindeordnungen Bayerns (Artikel 87) und Baden-Württembergs (Paragraph 102) dienen. Anstatt im Vertrauen auf die Abstraktheit juristischer Konzepte schlicht zu behaupten, Begriff und Rechtsanwendung stünden in keinem Zusammenhang (mehr) zu Ernst Forsthoffs Konzept der „Daseinsvorsorge“, wird vorgeschlagen, die Frage der Provenienz in einer (hypothetischen) rechtswissenschaftlichen Be­handlung des Stoffes ernst zu nehmen. Danach wäre in diesem Beispiel erstens anzuerkennen, dass Forsthoffs Veröffentlichungen zutiefst antisemitische und nationalsozialistische Textpassagen enthalten. Zweitens wäre zu fragen, ob durch das Konzept der „Daseinsvorsorge“ antisemitisches oder nationalsozialistisches Ge­dankengut „transportiert“ wird. Drittens wäre bei der Klärung dieser Frage, anstatt sie pauschal und ohne weitere Begründung zu verneinen, einschlägige Sekundärliteratur zur Kenntnis zu nehmen (hier etwa Jens Kersten, „Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von Ernst Forsthoff“, Der Staat, Bd. 44, 2005).

          Für heutige Grundlagenforschung stellt die Frage, ob durch das Konzept der „Daseinsvorsorge“ antisemitisches oder nationalsozialistisches Gedankengut transportiert wird, jedoch kein praktisches Problem des Umgangs dar, sondern eine wichtige Forschungsfrage. Für das Gros juristischer Arbeit hingegen, etwa bei einer Kommentierung von Gemeindeordnungen oder einem Artikel zu europäischem Wettbewerbsrecht, stellt der Umgang mit Forsthoff sehr wohl ein praktisches Problem dar. Zugegebenermaßen steht zu vermuten, dass sich dieses Pro­blem, das Provenienz-Problem, bei Grundlagenforschung häufiger stellt als bei etwaigen anderen juristischen Arbeiten. Doch diese quantitativen Nuancen be­gründen keine qualitative Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung und an­derweitiger Juristerei.

          Ebenso wenig ist ersichtlich, warum das Provenienz-Problem allein auf Bereiche des Öffentlichen Rechts begrenzt sein sollte. Dass sich der Aufsatz auf Beispiele der „historisch wirkmächtigsten deutschen Figuren“ im Öffentlichen Recht be­schränkt, liegt primär in meiner begrenzten Kenntnis, nicht in einer etwaigen strukturellen Besonderheit des Öffentlichen Rechts begründet (so ausdrücklich auf S. 439). Warum auch sollten antisemitische Zivil- oder sexistische Strafrechtler weniger ein Provenienz-Problem begründen als rassistische Staatsrechtler?

          Daher geht das Provenienz-Problem grundsätzlich alle etwas an; in welchem Ausmaß, das sollte wohl jeder für sich stetig reflektieren.

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