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Geschwistersoziologie : Einzelkind, Erstgeborener, Nesthäkchen – was bedeutet das?

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Drei Paar Füße unter der Bettdecke: Mutter, Vater und Kind. Hat die Geburtenfolge in der Familie Einfluss auf den Charakter? Bild: Picture-Alliance

Das mittlere Kind braucht ständig Aufmerksamkeit und das jüngste hat die engste Bindung zu den Eltern? Das stimmt nicht unbedingt, sagen Forscher nun.

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          Von der modernen Gesellschaft heißt es, die Menschen hätten noch nie in einer freieren gelebt. Noch nie seien die Zwänge geringer und die Wahlfreiheiten größer gewesen. Ob Wohnort, Schulbildung, Partner, politische Haltung, Werte, Glaubensüberzeugungen oder Familie – überall sind anstelle von Tradition und Herkunft Optionen und Chancen getreten. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis werden dann von der Soziologie doch oft wieder Belege gefunden für die Vermutung, dass es mit der Freiheit der modernen Gesellschaft doch nicht so weit her ist. Unstrittig jedenfalls ist, dass es immer noch so etwas wie das Schicksal gibt. Also biographische Zufälle, die unser Leben bestimmen, ohne dass wir je eine Wahl gehabt hätten. Ein Beispiel dafür ist die eigene Position in der Geburtenfolge der Familie. Ob Einzelkind, Erstgeborener, Sandwichkind oder Nesthäkchen – man wird in eine Gruppe geboren und muss in ihr seinen Platz finden. Aber was folgt eigentlich aus dieser Geburtenfolge – prägt sie denn wirklich die eigene Persönlichkeit, gar das weitere Lebensschicksal?

          An Alltagsmythen über dieses Thema mangelt es nicht. Die ersten Kinder gelten als eher konservativ, weil es auch die Erziehung der Eltern war. Das zweite Kind ist der typische Rebell, der sich auflehnt gegen die elterliche Strenge, die das erste noch widerspruchslos hingenommen hat. Dabei gelten die mittleren Kinder generell als schwierig, da sie dann doch eher wieder litten unter der mangelnden elterlichen Aufmerksamkeit und Zuneigung, die sie mit ihren Geschwistern teilen mussten. Man könne eben ein privilegiertes Kind sein – das Erste, das Einzige oder das Letzte – oder nur eins irgendwo im diffusen Mittelfeld der familiären Positionen. Sind es mehrere Kinder, gilt schließlich das Jüngste als verhätschelt und weniger robust als die Älteren, weil es als das Nesthäkchen von den Eltern mit besonders großer Liebe und Zärtlichkeit verwöhnt worden sei.

          Emotional labilere Kinder

          So weit unsere hartnäckigen Klischees über das Schicksal Familie. Die Forschung sagt dazu: Alles Unsinn. Es gebe keine belastbaren Studien, die einen prägenden Einfluss der Geburtenfolge auf die Persönlichkeit nachweisen könnten. Jetzt aber haben sich Wissenschaftler vom Forschungszentrum Demografischer Wandel (FZDW) an der Frankfurt University of Applied Sciences gemeldet, und sie bestreiten diesen Forschungsstand. Die Geburtenfolge präge doch, nur nicht so, wie man das erwarten würde.

          Untersucht haben sie das an der Position des Nesthäkchens, dem ja eine besonders innige Bindung an die Eltern nachgesagt wird. Möglich macht das die Längsschnittstudie „Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter“, die vom FZDW jährlich mit rund 10.000 Schülerinnen und Schülern an rund 150 Schulen durchgeführt wird. Weil diese Studie im Schuljahr 2016/17 nicht nur nach den Geschwistern der Teilnehmer gefragt hat, sondern auch die Persönlichkeitseigenschaften der Siebtklässler in ihrer Stichprobe erfasst hat, die bis zu zwei Geschwister hatten. Aber wie erfährt man als Soziologe etwas über die Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen von Siebtklässlern? Die Frankfurter Forscher mussten hier einen Umweg gehen und die Kinder fragen, wie leicht es ihnen falle, mit den Eltern über wichtige persönliche Dinge zu sprechen.

          Das Ergebnis: Einzelkindern gelang das am besten, Sandwichkindern deutlich schlechter. Am schwersten allerdings fiel das überraschenderweise den Nesthäkchen, obwohl diese doch angeblich die größte elterliche Aufmerksamkeit erfahren. Kinder mit älteren Geschwistern hätten also häufig eine weniger enge Beziehung zu ihren Eltern, so das Fazit der Studie des FZDW. Und sie ergänzt noch, dass die Prägekraft der Geburtenfolge auf die kindliche Persönlichkeit tatsächlich nachweisbar sei: Die Nesthäkchen der Studie seien emotional labiler und furchtsamer als die Kinder mit anderen Positionen in der Familie. Könnte das die Folge der unerwarteten Schwäche ihrer Bindung an die Eltern sein?

          Die Befunde der Frankfurter Studie werden sicher für Gesprächsstoff sorgen – vor allem in den Familien mit mehr als einem Kind. Allerdings ist auch anzumerken, dass sie sich gewichtige methodische Einwände gefallen lassen. So enthält sie nämlich keine Angaben über das Alter der Geschwister. Wenn ein etwa 13-Jähriger als das Nesthäkchen das jüngste Kind in einer Familie ist, spielt es dann keine Rolle, ob seine älteren Geschwister vielleicht selbst noch Teenager sind, oder schon Erwachsene, die aus dem Haus sind? In letzterem Fall wäre das Nesthäkchen tatsächlich eher ein Einzelkind, da es die Aufmerksamkeit der Eltern mit keinem anderen Kind in der unmittelbaren Nähe der Eltern teilen müsste.

          Umgekehrt kann man davon ausgehen, dass alle Siebtklässler mit jüngeren Geschwistern es eher mit noch kleinen oder gar sehr kleinen Geschwistern zu tun haben, die mit ihren Eltern möglicherweise noch gar keine Gespräche über wichtige persönliche Dinge führen können. Man müsste sich also die Gruppe der Nesthäkchen noch einmal gezielt vornehmen und deren gesamtes Familienumfeld einbeziehen, um auch noch diese Fragen klären zu können.

          Mehr zur Längsschnittstudie Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter (GUS) unter: http://fzdw.de/projekte/gus/

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