Soziologie der Preisverleihung : Ein Juror muss den Fremden spielen
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Quentin Tarantino erhält im Jahr 2013 einen Oscar für „Django Unchained". Bild: AP/dpa
Wenn in zwei Wochen die Oscars verliehen werden, wird man wieder erleben, dass nicht immer die Besten gewinnen. Doch Ehrungen in Wettbewerben sind objektiv – wenn auch anders, als die Geehrten vielleicht gerne glauben.
Zusammen mit der Aufwertung des Konkurrenzgedankens in Bereichen jenseits der Wirtschaft hat sich auch in der Soziologie ein lebhaftes Interesse an Themen wie Leistungsvergleich oder Bestenauslese entwickelt. Bisher gilt es vor allem den Rankings, etwa von Hochschulen. Die periodische Verleihung großer Preise und Auszeichnungen ist demgegenüber zu kurz gekommen. Und vor allem wird selten gefragt, was diese beiden Formen des sozialen Vergleichs eigentlich voneinander unterscheidet. Einen theoretisch durchdachten Beitrag dazu findet man in einem älteren Buch des amerikanischen Soziologen William J. Goode, das sich mit modernen Formen des Statuserwerbs beschäftigt. Auch in aktueller Literatur findet man ihn zitiert, und zwar als den jüngsten Text seiner Art, auch wenn er schon vor mehr als vier Jahrzehnten erschienen ist.
Zwei Komponenten sind Goode zufolge für Preisverleihungen wesentlich. Zum einen muss der Verleihung eine eigene, ihr zugeordnete Form der Leistungsschau vorangehen, deren Ergebnisse sodann von einer Jury gewürdigt werden. Es werden also nicht komplette Personen oder Organisationen beurteilt, so wie bei der Prestigemessung im Ranking, sondern nur die Beiträge dieser Akteure zu einem zeitlich befristeten Wettbewerb. Das wiederum setzt voraus, dass das Reputationsgefälle unter den Bewerbern, aber auch Jurorenurteile vergangener Wettkämpfe als unmaßgeblich behandelt werden.
Sie sollen das Votum der Jury nicht präjudizieren, denn auch Neulinge sollen eine Chance erhalten, und umgekehrt soll sich niemand auf seinen Lorbeeren ausruhen dürfen. Dass dies gerade für die Zelebritäten eine Zumutung sein kann, erkennt man an den Preisverleihungen der Filmbranche, wo die berühmten Regisseure mitunter nur teilnehmen, wenn man ihnen vorab zusagt, dass ihre Filme „außer Konkurrenz“ laufen werden.
Mehrere Bewertungsdimensionen
Um diese Offenheit des Verfahrens zu garantieren, muss es den Juroren außerdem erlaubt sein, sich zu den Bewerbern in der sozialen Rolle des Fremden zu verhalten. Auch die – seien es gute, seien es schlechte – Beziehungen, die den Juror außerhalb des Verfahrens mit seinen Kandidaten verbinden, sollen sein Urteil nicht trüben. Mahnungen an den Juror, unparteilich zu sein, reichen dafür nicht aus. Er muss vielmehr sicher sein, dass er nicht etwa seine Freunde verliert, wenn er den Leistungsbeitrag eines Fremden favorisiert, und dazu müssen auch die Freunde selbst kooperieren.
Dass diese Erwartung nicht ganz unrealistisch ist, dafür spricht nicht nur das Diktum Quentin Tarantinos, Freunde in der Jury zu haben verschlechtere die Chancen, weil der Juror sich dann mit positiven Urteilen stärker zurückhalte. Auch unlängst publizierte Netzwerkforschungen über die Preisverleihungen in der norwegischen Werbeindustrie haben Tarantinos Einschätzung zumindest in Teilen bestätigt. Der Umstand, dass jemand auch Kooperationspartner eines Jurors oder persönlich mit ihm bekannt ist, erhöht demnach nur seine Chancen, als Kandidat nominiert zu werden; ein davon unabhängiger Einfluss auf die Kür des Siegers war nicht nachzuweisen. Anders verhält es sich, wenn der Kandidat früher schon einmal über seinen gegenwärtigen Juror zu urteilen hatte – und ihm bei dieser Gelegenheit einen Preis verlieh. Dann ist das Motiv der Dankbarkeit offenbar stärker als die Furcht, für befangen zu gelten.
Die These, dass solche Wettbewerbe zuverlässig den Besten oder die Besten auslesen, wird gleichwohl kein Soziologe und kein Entscheidungstheoretiker teilen. Denn abgesehen von Sportarten, in denen nur eine einzige Dimension möglichen Könnens zählt, so dass Präzisionsmessungen ausreichen, den Gewinner zu ermitteln, kommt es bei Wettbewerben ja stets auf mehrere Bewertungsdimensionen an, die sich nicht ohne Informationsverluste zu einem einheitlichen Urteil aufsummieren lassen. Mit Recht macht Goode darauf aufmerksam, dass Kontroversen über die Verdientheit eines Preises auch nach der offiziellen Verleihung nicht abreißen.
Wenn er Preisverleihungen, und zwar als zweites Merkmal neben dem vorgeschalteten ergebnisoffenen Verfahren, gleichwohl so etwas wie Objektivität bescheinigt, dann kann das also nur im Sinne des institutionellen Erfolges gemeint sein. Objektiv heißt dann vor allem, dass nach der Auszeichnung niemand mehr seine persönliche Meinung preisgibt, wenn er den Ausgezeichneten seinem Range entsprechend behandelt – nicht einmal der knapp unterlegene Mitbewerber. Die Sitte, dass auch er dem Sieger zu gratulieren habe, und zwar in der Regel noch vor allen anderen, hat genau diesen Sinn: Sie drückt den Respekt vor der Institution aus – und lässt die eigene Meinung über den Ausgang des Verfahrens dahingestellt.