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Kognitionswissenschaft : Unwirklich

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Sehen wir dasselbe, wenn wir den Blick auf dieselben Dinge richten? Bild: Colourbox.com

Wie wir die Welt wahrnehmen, gehört zu den großen Fragen der Philosophie. Nun förderten Sehtests zutage, was jedes kreative Herz erfreuen wird. Eine Glosse.

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          Jetzt, da allerorts das „postfaktische“ Zeitalter waltet, wird die Suche nach dem, was wahr und wirklich ist, zu einer identitätsstiftenden Angelegenheit. Denn erst wenn wir die Wirklichkeit kennen, können wir schließlich von einer Überwindung dessen sprechen, was wir so dringlich wiederherstellen wollen. Im Sinne der Dialektik der Aufklärung könnte man geneigt sein, ein Apriori des Faktischen schon allein aus gesellschaftskritischen Gründen in Frage zu stellen. Faktisch ist das, was wir dazu erklären. Oder? Das müsste dann selbst für die Welt der wissenschaftlichen Beweise gelten, die Eindeutigkeit nur insoweit erlaubt, als wir sie einmal für eindeutig erklärt haben.

          Und so gehört das mathematische Gesetz, dass eins plus eins zwei ist, zu den als unumstößlich erklärten Fakten unseres Seins, deren es in der Welt der Naturwissenschaften viele gibt (freilich nur so lange, bis sie falsifiziert und durch neue ersetzt werden). Was aber ist mit dem, was wir sehen, das Draußen, die Welt, die Farben, Konturen und Bewegungen des Raums sowie die Geräusche und Gerüche, die uns umgeben – all das, was unsere Wahrnehmung ausmacht? Sehen wir dasselbe, wenn wir unseren Blick auf dieselben Dinge richten? Besteht unsere Erkenntnis aus dem, was wir Fakten nennen?

          Gibt es eine Realität jenseits unserer Wahrnehmung?

          Manchmal entspreche unsere Wahrnehmung nicht der Realität, erfahren wir nun aus einer kognitionswissenschaftlichen Studie der Universität Osnabrück und fühlen uns sogleich an die großen Fragen der Philosophie erinnert. Gibt es überhaupt eine Realität jenseits unserer Wahrnehmung? Entsteht das, was real oder wirklich ist, nicht erst durch unsere Wahrnehmung? Frei vom Kopfzerbrechen des philosophischen Idealismus steht für die Forscher fest, dass die Menschen ihrer eigenen Wahrnehmung mehr vertrauen als „der“ Wirklichkeit, deren erkenntnisunabhängige Existenz sie offenkundig als erwiesen ansehen.

          Spezielle Sehtests förderten zutage, was jedes kreative Herz erfreuen wird. Bekanntermaßen vervollständigt das Gehirn automatisch Informationen, die im Blinden Fleck des Sehnervs fehlen. Die Versuchspersonen des Osnabrücker Experiments, die die Qual der Wahl hatten und aus zwei physikalisch unterschiedlichen Kreisen denjenigen auswählen sollten, der durchgängig gestreift war, bevorzugten jenen Kreis, der teilweise im Blinden Fleck lag, und nicht den, den sie vollständig sahen. Die fehlenden Streifen kreierte ihr Gehirn, und das erschien ihnen offenbar wirklicher als die Wirklichkeit der Außenwelt. Entfernen wir uns damit von einer objektiv gültigen Wahrheit? Oder ist es am Ende nicht vielmehr so, dass diese kreative Umkehrung in der Wahrnehmung der Welt dem, was wir Wirklichkeit nennen, sogar näher kommt? Vielleicht schützt uns eine solche Erkenntnis auch davor, in einer ideologisierten Wissenschaftsgläubigkeit, einem neu auflebenden Szientismus, die einzige Entgegnung auf „Fake News“ zu sehen.

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