Soziale Systeme : An der Massenuniversität machen die Viren Party
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Aus dem Zeitalter der Präsenzuniversität: Kein Abstand nirgends Bild: Picture-Alliance
Netzwerke der Präsenzuniversität: Zu wenig Dozenten für zu viele Studenten sind auch epidemiologisch ein Problem.
Der Sinn und die Notwendigkeit der Schließung von Bildungseinrichtungen während der Corona-Pandemie werden leidenschaftlich diskutiert. Nicht nur die Schul-, sondern auch die Universitätsgebäude sind seit Mitte März beinahe auf der ganzen Welt verwaist. An Universitäten findet auch keine Notbetreuung statt, nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sitzen unter Einschränkungen in den Büros. Die Lehre findet online statt, über Videokonferenzen und Lernplattformen.
Unbehagen und Kritik an der virtuellen Universität entzünden sich weniger an den Folgen für die Studierenden, für die der Wegfall ihrer Nebenjobs, zum Beispiel in der Gastronomie, dramatischer sein dürfte. Vielmehr wird inner- und auch außerhalb der Universität das Ende der Präsenzuniversität befürchtet, in manchem Kommentar gar als geheimer Plan der Bildungsbürokratie perhorresziert. Angesichts der gemischten Erfahrungen mit der Online-Lehre, die trotz durchaus erfolgreicher Umstellung überwiegend als lästig empfunden wird, dürfte eine zukünftige „Zoom“-Pflicht an Universitäten ungefähr so wahrscheinlich sein wie ein Sars-CoV-2-Impfzwang.
Studieren ist ist vielleicht besonders ansteckend
Für eine temporäre Einschränkung der Präsenzlehre gibt es jedoch gute Gründe. Diese liegen in der Bedeutung von Universitäten – und anderen Organisationen mit vielen Mitgliedern – für die Diffusion von Infektionskrankheiten. Stärker noch als in Produktionsbetrieben, vielleicht sogar stärker als in Schulen sind die im Universitätsbetrieb entstehenden Kontakte geeignet, eine schnelle und weitreichende Verbreitung von Infektionen wahrscheinlich zu machen. Diese Schlussfolgerung legt eine neue Studie der Cornell University nahe, in der die Struktur sozialer Netzwerke an dieser Universität untersucht wurde.
Die Kontaktstruktur von Universitäten hängt ab von der Teilnahme an Vorlesungen und Seminaren, aber auch von gemeinsamen Mahlzeiten in der Mensa, Partys in den Wohnheimen und zufälligen Begegnungen. Nur ein Teil davon wird in der Studie erfasst, nämlich die Kontaktchancen der mehr als 20.000 Studentinnen und Studenten anhand ihrer Kursbelegungen. In einer Woche nimmt ein Student mit durchschnittlich 500 unterschiedlichen Kommilitonen an Präsenzveranstaltungen teil. Natürlich bedeutet nicht jede gemeinsame Kursbelegung ein Ansteckungsrisiko: In einem großen Raum kann der Abstand zu manchen anderen Teilnehmern zu groß sein. Und nicht immer sind alle anwesend.
Studenten bilden bimodale Netzwerke
Dennoch ist die Struktur des studentischen Kontaktnetzwerks grundsätzlich ein Paradies für Viren und Bakterien. Das wird deutlich, wenn man es als „bimodales Netzwerk“ betrachtet, das aus zwei Arten von Knoten besteht: Veranstaltungen und Studenten. Beziehungen entstehen in diesem Netzwerk durch die gemeinsame Teilnahme an Veranstaltungen. Insbesondere große Vorlesungen werden dadurch zu „Hubs“ im Netzwerk, über die zahlreiche Verknüpfungen laufen. In der Summe führt dies dazu, dass die durchschnittliche Distanz zwischen zwei Kommilitonen in diesem Netzwerk sehr gering ist: Sie liegt bei 2,5 – und somit ist jeder von jedem anderen im Durchschnitt nur 1,5 Kurse entfernt. Das bedeutet: Auch wenn zwei beliebige Studenten nicht denselben Kurs besuchen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie Seminare und Vorlesungen mit einem dritten Studenten teilen.
Es handelt sich beim studentischen Netzwerk folglich um ein „small-world“-Netzwerk, in dem ein hochansteckendes Virus von einem beliebigen Knoten aus jeden anderen Knoten auf kurzem Wege erreichen kann: Über 90 Prozent der Studenten sind nur drei Schritte voneinander entfernt, und im Bereich der Undergraduates, die besonders viele große Veranstaltungen besuchen, liegt dieser Wert sogar bei fast 100 Prozent.
Große Vorlesungen besser nur noch online
Indem man die Struktur der erhobenen Netzwerke in Simulationen verändert, können die Auswirkungen einzelner Maßnahmen besser abgeschätzt und beurteilt werden. Es liegt zum Beispiel nahe, große Vorlesungen online durchzuführen. Sie haben nicht nur viele Teilnehmer, sondern versammeln auch heterogene Gruppen, zum Beispiel aus unterschiedlichen Disziplinen. Was verändert sich, wenn man alle Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmern aus dem bimodalen Netzwerk entfernt? Nicht sehr viel, die durchschnittliche Distanz im Netzwerk erhöht sich zum Beispiel auf knapp unter drei Zwischenschritte. Nimmt man 30 Teilnehmer als Schwellenwert, steigt sie bereits auf 3,75. Aber damit sind immer noch mehr als die Hälfte der Studierenden über vier Schritte oder weniger miteinander verbunden.
Um die Diffusion entscheidend zu reduzieren, müssten nicht nur kleinere, sondern vor allem mehr Kurse angeboten werden. Erst wenn ihre Zahl etwa gleich hoch ist wie die Zahl der Kurse, die ein Student im Durchschnitt belegt, sinkt die Kontaktwahrscheinlichkeit deutlich. Dies setzte natürlich mehr Lehrpersonal voraus. Eine bessere Betreuungsrelation an Universitäten wäre also nicht nur didaktisch, sondern auch epidemiologisch sinnvoll.
Weeden, Kim; Cornwell, Benjamin (2020): The small-world network of college classes. Implications for epidemic spread on a university campus. In: Sociological Science 7, S. 222-241. DOI: 10.15195/v7.a9.