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Der Raumzauber des Stereoskops : Schon um 1900 gingen die Menschen virtuell auf Reisen

  • -Aktualisiert am

Das ist ja ein Doppelmordsbrocken! Die Nordostecke der Cheops-Pyramide in einer der 100 Ansichten von „Egypt Through the Stereoscope“ aus dem Jahr 1905 Bild: Getty Research Institute Los Angeles

Paris bei Nacht für die ganze Familie: Luisa Feiersinger entdeckt den Realismus des Stereoskops im Ritual.

          3 Min.

          Das Leuchten der Farben, die Schärfe der Gegenstände wie beim natürlichen Sehen, die Eröffnung eines real erscheinenden Raumes mit erstaunlich echt wirkenden Parametern: Wer je in ein beleuchtetes farbiges Diorama schaute, dürfte den Eindruck dieser Raumevokation kaum vergessen haben. Tritt heute unweigerlich die Intensität der analogen Stereoskopie in einen Wettbewerb mit den ubiquitär erscheinenden digitalen flachen Bewegtbildern mit Tonbeigabe, so übertrifft das analoge, stereoskope Doppelbild aus dem neunzehnten Jahrhundert durch die Pracht der fotografischen Präzision und Leuchtkraft dennoch deren pixelreiche „hyperrealistische“ Sichtweise. Entscheidend ist der Raumeindruck, der beim Sehen durch die Überblendung der gering abweichenden Fotografien hergestellt wird: Betrachtende können sich in dem Raum umsehen, als würden sie ihn betreten und durchschreiten. Walter Benjamin sprach bei der Erinnerung an diese in der Kindheit erlebte Vision von „Aquarien der Ferne und Vergangenheit“.

          Digitalisierung ermöglicht heute solche Simulation durch Streetview-Spiele wie GeoGuessr oder durch Headsets mit 3-D-Effekt, die den Aufenthalt in Räumen nachahmen. Letzteren frappierend ähnliche, ebenfalls am Kopf befestigte Apparaturen hielt schon um 1900 die amerikanische Firma Underwood & Underwood als Teil eines die Räume verkoppelnden Sets von Stereoskopie und Text oder Landkarte bereit. Wie Luisa Feiersinger („Traveling Through the Stereoscope“, in: „Verkoppelte Räume. Karte und Bildfolge als mediales Dispositiv“. Herausgegeben von Ulrike Boskamp und anderen, Hirmer Verlag, Berlin 2020) darlegt, hatte die Firma nichts Geringeres vor, als durch ihr mit Trademark geschütztes „system of stay-at-home-travel“ Reisen in die Ferne durch das stereoskope Kopfkino zu ersetzen (oder zumindest vorzubereiten).

          Landkarte mit genauen Markierungen

          Die Apparatur mit dem stereoskopischen Bild vor den Augen bildete nur einen Teil des Gesamtkonzepts der virtuellen Reise. Mitgeliefert wurden Landkarten mit präzisen Angaben zu den in den stereoskopischen Bildern sichtbaren Perspektiven sowie ein Textbuch mit detaillierten kunsthistorisch-archäologischen Beschreibungen des Gesehenen. Am Beispiel von Ägypten verdeutlicht Feiersinger mit zahlreichen Abbildungen, wie die damaligen Unternehmer sich den Gebrauch ihrer Raum koppelnden Medien vorstellten. Auf einer Landkarte des Niltals sind die Perspektiven der mitgelieferten Bilder der Kopfapparatur genau eingezeichnet; zudem verspricht die Beschreibung durch einen Ägyptologen die Festigung der Raumsimulation durch die Beschreibung der Bewegung zwischen den sichtbaren Ruinen etwa in Alexandria oder in Theben. Das fotografische Bild erhielt historische Tiefe; der Eindruck des Dort-Seins wurde dadurch verstärkt, dass man zum Sich-Umschauen animiert wurde.

          Dennoch sieht die Autorin das eigentliche Analogon zur realen Reise weniger in der Evokation der bildlichen Eindrücke durch die „Amalgamierung von Blick und Kameraaufnahme“, bei der die textlichen Erläuterungen halfen, als im kommunikativen Umgang mit dem Material im häuslichen Umfeld. Eine Werbegrafik der Firma Sears, Roebuck & Co. legt nahe, dass der Gebrauch dieser virtuellen Reisen ein familiäres, kolloquiales Tun im Umgang mit Bildern, Karten, Texten bildete, da sie nach Unterstützung bei der Handhabung und Erläuterung verlangten. Zur solipsistischen Abkapselung heutiger digitaler Raumsimulationen mit einem Headset bildet diese bürgerliche Familiensituation das Gegenmodell. Hierin sieht Feiersinger überraschenderweise das eigentliche imitatorische Moment der Reisesimulation – im notwendigen Aufwand des Austauschs, ohne den die Sehenswürdigkeiten gar nicht sichtbar werden.

          Im Gegensatz hierzu hob Benjamin in seiner melancholischen Erinnerung an die Berliner Kindheit hervor, dass die von den Dioramenproduzenten als marktgängig erkannten Reisethemen durch die Künstlichkeit des Gaslichts den Rezipienten doch immer wieder nach „innen“ führten: „Denn dies war an den Reisen sonderbar: dass ihre ferne Welt nicht immer fremd und dass die Sehnsucht, die sie in mir weckte, nicht immer eine lockende ins Unbekannte, vielmehr bisweilen jene lindere nach einer Rückkehr ins Zuhause war.“ In Zeiten der Pandemie und des ökologischen Desasters schafft diese Dialektik von äußerer Simulation und innerem Sehen noch einmal genügend Stoff für die Träume von der Reise und ihren Orten.

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