Sprache der Römer : Immer noch Latein
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Nicht allein der instrumentelle Nutzen von Lateinkenntnissen spielt für das große Interesse eine Rolle, sondern auch ihr symbolischer Nutzen. Bild: dpa
Dass Lateinkenntnisse das logische Denken oder sogar die Intelligenz fördern, lässt sich nicht nachweisen. Warum lernen dennoch immer mehr Schüler die Sprache?
Die Entscheidung, welche weiterführende Schule ein Kind besuchen soll, ist nicht einfach. Neben Standort und Renommee der Schule kann auch die Überlegung eine Rolle spielen, ob es ein mathematisch-naturwissenschaftlicher, ein neusprachlicher oder ein humanistischer Zweig sein soll. Ersterer verspricht eine bessere Grundlage für naturwissenschaftliche und technische Studiengänge, aber etwa auch für ein Medizinstudium. Bei den Sprachen muss man andere Argumente bemühen. Die Aussicht auf ein geisteswissenschaftliches Studienfach dient eher selten als Rechtfertigung, sondern häufig der potentielle Nutzen von Fremdsprachenkenntnissen.
Dieses Argument versagt aber bei „toten“ Sprachen wie Latein oder Altgriechisch: Man wird von Kenntnissen dieser Sprachen weder im Alltag noch im Berufsleben einen konkreten Vorteil haben. Nichtsdestotrotz erfreuen sie sich an Schulen nach wie vor einiger Beliebtheit – zumindest bei den Eltern, die mit über die Schulwahl entscheiden: Im Jahr 2017 lag der Anteil der Latein lernenden Gymnasiasten bei 31 Prozent, und er ist in den Jahren zuvor sogar leicht gestiegen.
Wie sich diese stabile, zuletzt sogar steigende Nachfrage erklären lässt, haben Berliner und Potsdamer Soziologen nun zu erklären versucht. Sie gehen aus von der Beobachtung, dass insbesondere dem Latein häufig ein „Sekundärnutzen“ zugesprochen wird: Zwar kann man sich mit Lateinkenntnissen nicht besser verständigen als ohne, doch man kann auf Transfereffekte hoffen. Nicht nur erleichterten sie das Erlernen moderner romanischer Sprachen, man lerne auch viel Nützliches über Grammatik und Logik. Diese Hoffnungen sind durch empirische Studien aber nicht gedeckt. Nur weniger als ein Zehntel der Studierenden kann seine Lateinkenntnisse verwerten, zum Beispiel im Medizinstudium.
Latein als Zugehörigkeit zu einer privilegierten Schicht
Darüber hinaus gibt es keinen Nachweis, dass Lateinkenntnisse das logische Denken oder die Intelligenz fördern, allenfalls schwache Hinweise auf eine positive Wirkung auf allgemeine Sprachfertigkeiten. Selbst für das Erlernen romanischer Sprachen bringt das Lateinische wenig: Wer Spanisch lernt, hat mehr davon, schon Französisch zu beherrschen.
Um vor dem Hintergrund dieser ernüchternden Ergebnisse die anhaltende Popularität des Lateinischen zu erklären, greifen die Forscher auf das in der Soziologie beinahe sprichwörtlich gewordene „Thomas-Theorem“ zurück. In der Formulierung von William I. und Dorothy S. Thomas lautet es: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“ Damit tragen Thomas und Thomas der oft beobachteten Tatsache Rechnung, dass der Glaube an die Wirklichkeit eines Phänomens weitreichende soziale Folgen haben kann – völlig unabhängig davon, ob die Wissenschaft oder andere Beobachter dieser Wirklichkeitsauffassung zustimmen. Glauben beispielsweise viele Menschen, dass eine Bank bald zahlungsunfähig sein wird, und heben deshalb ihr Geld in großer Zahl ab, so ist der Bankrott ebenso real wie unvermeidbar.
Eine solche, sich selbst validierende Definition der Wirklichkeit vermuten die Autoren im vorliegenden Fall. Nicht allein der instrumentelle (sekundäre) Nutzen von Lateinkenntnissen spielt dafür eine Rolle, sondern auch ihr symbolischer Nutzen: Sie werden als Indikator für die Zugehörigkeit zu einer privilegierten Schicht interpretiert, auch wenn ein entsprechender Zusammenhang gar nicht (mehr) besteht. Um dies zu prüfen, wurden mehr als 1000 Eltern von Achtklässlern an Gymnasien befragt. Eine große Mehrheit von ihnen glaubt an den (kaum vorhandenen) Sekundärnutzen des Lateinischen. Und dieser Glaube war unter jenen Eltern besonders verbreitet, die dem akademischen Bildungsmilieu angehörten.
Da nicht anzunehmen ist, dass gerade diese Gruppe besonders empfänglich für Unwahrheiten ist, liegt eine andere Erklärung nahe: Sie haben selbst bereits von der symbolischen Wertschätzung der Sprachkenntnisse profitiert und stützen deshalb diese Wirklichkeitskonstruktion. In der Tat scheint es einen entsprechenden symbolischen Nutzen zu geben: Die Befragten gaben nämlich auch zu Protokoll, dass sie Lateinkenntnisse im Durchschnitt mit einer besseren Allgemeinbildung und einem höheren gesellschaftlichen Ansehen verbinden als zum Beispiel Französischkenntnisse.
Nicht nur mit Blick auf die Schulwahl handelt es sich bei dieser Wirklichkeitskonstruktion um eine durchaus folgenreiche, wie ein zusätzliches Experiment belegen konnte: Fiktive Bewerber mit Lateinkenntnissen wurden bei ansonsten gleichen Eigenschaften häufiger zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Es war sicherlich nicht geplant, dieses auf Lateinisch zu führen.
Die Studie berücksichtigt allerdings nur einen Ausschnitt dessen, was als „Sekundärnutzen“ von Lateinkenntnissen denkbar ist. Könnte deren Sinn nicht darin liegen, etwas dezidiert Zweckfreies zu lernen? Dass man nicht für die Schule lerne, sondern für das Leben, könnte hier ausnahmsweise zutreffen. Denn gerade für das Leben ist es doch wichtig, sich mit Zweckfreiem beschäftigen zu können. Wer Latein lernt, lernt das Lernen. Und das ist immer noch eine der wichtigsten Lektionen, die man in der Schule erhalten kann.