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Eine Spiegel-Affäre : Warum wurde Joseph Wulfs Arendt-Rezension nicht gedruckt?

  • -Aktualisiert am

Joseph Wulfs Flüchtlingspass, ausgestellt 1964 vom französischen Außenministeriums. Bild: Abbild. aus dem bespr. Band

Statt der vom „Spiegel“ bei Joseph Wulf bestellten Rezension über „Eichmann in Jerusalem“ erschien eine Besprechung von Alexander Mitscherlich. Was war im Hintergrund geschehen?

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          Im Herbst 1964 beauftragte der „Spiegel“ Joseph Wulf mit einer Besprechung von Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“, das 1963 in den Vereinigten Staaten erschienen war und nun im Piper-Verlag in deutscher Übersetzung vorlag. Der von Wulf eingereichte Beitrag, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Januar 2020 erstmals gedruckt worden ist, wurde in Hamburg abgelehnt; er sei „etwas zu ungerecht“, teilte der Verlagsdirektor Hans Detlev Becker dem Autor mit Brief vom 23. Dezember 1964 mit. Über den Vorgang hat Klaus Kempter in seiner Monographie zu Wulf berichtet.

          Unter den zahlreichen Rezensenten von Arendts Buch nahm Wulf als jüdischer Widerstandskämpfer, KZ-Überlebender und Holocaustforscher eine Ausnahmestellung ein. 1912 in Chemnitz geboren, wuchs er in Krakau auf und ließ sich zum Rabbiner ausbilden. 1941 schloss er sich einer jüdischen Untergrundorganisation in Polen an, die gegen die deutsche Besatzungsmacht kämpfte. 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet und kam ins KZ Auschwitz, er konnte aber im Januar 1945 fliehen.

          Noch im selben Jahr gründete Wulf in Polen die Zentrale Jüdische Kommission, die es sich zur Aufgabe machte, die nationalsozialistischen Verbrechen zu dokumentieren. Nach einer Zwischenstation in Paris ging er 1952 nach Berlin, wo er seine Recherchen als freier Autor fortsetzte. Bis zu seinem Freitod am 10. Oktober 1974 hat Wulf mehr als zwanzig Bücher zum Nationalsozialismus und zum Holocaust publiziert, darunter grundlegende dokumentarische Werke (zwei nennt Arendt im Literaturverzeichnis ihres Buches).

          Arendt spitzte Hilbergs Auffassung zu

          Erfolglos blieben Wulfs Bemühungen zur Gründung eines „Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen“, da der Berliner Senat das Projekt 1968 ablehnte. Der Ort sollte das sogenannte Haus der Wannseekonferenz sein. Mit der Organisation der „Endlösung“ wurde bei dieser Konferenz hochrangiger Vertreter von Reichsregierung und SS am 20. Januar 1942 Adolf Eichmann beauftragt, SS-Obersturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt.

          Eichmann konnte sich nach Argentinien absetzen, wurde dort 1960 vom israelischen Geheimdienst verhaftet, ein Jahr später in Jerusalem vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Arendt nahm an dem Prozess als Berichterstatterin für die Zeitschrift „The New Yorker“ teil, die 1962 eine Folge von Artikeln brachte. Diese führten zu publizistischen Angriffen, die sich nach Erscheinen des Buches fortsetzten. Denn Arendt beschrieb Eichmann als eher durchschnittlichen Menschen und verschärfte eine von Raul Hilberg vertretene Auffassung, wonach die Judenräte, Zwangskörperschaften in den deutsch besetzten Gebieten, dem NS-Staat bei den Deportationen in die Vernichtungslager zugearbeitet hätten.

          Nachgedruckt wurden Besprechungen des Buches 1964 in dem Band „Die Kontroverse“ in der Nymphenburger Verlagshandlung. Als Betroffener und Historiker konnte Wulf der Kritik neue Aspekte hinzufügen. Statt auf seine Lebensgeschichte bezieht er sich vor allem auf belegbare Tatsachen. Diese aber wollte der „Spiegel“ zeitgenössischen Lesern offenbar nicht zumuten, weshalb er einen anderen Autor mit der Rezension beauftragte, die im Heft vom 27. Januar 1965 erschien. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich nannte Arendts Darstellung zwar „hochmütig“, sprach aber von einem „unersetzlichen Übungsbuch“.

          Piper-Autoren unter sich

          Arendt war über Wulfs Besprechung und die Ablehnung informiert, wie ihr 1985 publizierter Briefwechsel mit Karl Jaspers zeigt. Dieser berichtete ihr am 29. Oktober 1964, dass das Typoskript vom „Spiegel“ an Klaus Piper, den Verleger des Eichmann-Buches, geschickt worden sei, der auch sein Verleger war. Er selbst sollte für Wulf einspringen, lehnte allerdings ab. Vier Wochen später, am 29. November, schrieb Arendt an Jaspers: „Die Spiegel-Affäre ist scheinbar erledigt; Mitscherlich soll die Besprechung schreiben, was ja ganz in Ordnung ist, da er auf jeden Fall unabhängig ist.“ Wulf dagegen hielt sie, wie sie am 25. Oktober an Jaspers geschrieben hatte, für „ganz und gar von jüdischen Organisationen abhängig“.

          Beteiligt an der Ausbootung von Joseph Wulf, so lässt sich dem Briefwechsel entnehmen, war Hans Rößner, der wie Eichmann als SS-Obersturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt gearbeitet hatte und im Piper-Verlag Lektor von Arendt, Jaspers und Mitscherlich war.

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