Soziologie der Polizeigewalt : Was Polizisten und Bankräuber gemeinsam haben
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Eine Studie stellt die Frage nach rassistischer Polizeigewalt neu und wartet mit Erkenntnissen über Misstrauen auf. Bild: Ryan C. Hermens/Lexington Herald-Leader/AP/dpa
Wenn Polizisten gewalttätig werden, gibt es noch andere Gründe als Rassismus. Schwarze sind häufiger von Polizeigewalt betroffen – doch Polizisten müssen jedem Verdächtigen gegenüber misstrauisch sein.
Immer wieder wird in Amerika gegen Fälle von extremer Polizeigewalt gegen Schwarze protestiert, immer wieder kommt es dort zu Todesschüssen auf Unbewaffnete. Viele sehen den Grund dieses Unheils darin, dass weiße Polizisten rassistische Vorurteile haben. Dieser naheliegenden Interpretation hat nun einer der weltweit bekanntesten Gewaltforscher widersprochen: Die Gewalt der Polizisten, so der amerikanische Soziologe Randall Collins unter Berufung auf die einschlägigen Forschungen seines Faches, trifft die Afroamerikaner zwar öfter und härter als andere Gruppen, dies aber nicht aus Rassismus, sondern aus anderen Gründen. Physische Gewalt – das ist für Collins so etwas wie der Endpunkt einer entgleisten Situation, ausgelöst durch Verhaltensweisen, die man sehr wohl auch an schwarzen Polizisten und weißen Verdächtigen beobachten kann.
Einerseits legen nämlich alle Polizisten, auch die schwarzen, merklichen Wert darauf, dass das Publikum ihre Situationsdefinition anerkennt, und zwar freiwillig und nicht nur aus Furcht vor andernfalls drohendem Zwang. Sie erwarten, dass der Bürger das professionelle Misstrauen, das sie ihm gegenüber an den Tag legen, zunächst einmal ihrer Rolle und nicht ihrer Person zurechnet.
Nach einer älteren Untersuchung des Organisationsoziologen John Van Maanen, die auf eigene Teilnahme an Polizeieinsätzen zurückgeht, ist das Publikum der Gesetzeshüter dazu auch durchaus bereit. Ein wichtiges Motiv ist natürlich, dass einer die Hilfe der Polizei sucht. Aber auch die als verdächtig eingestuften Personen, die das Gespräch mit der Polizei nicht von sich aus gesucht haben, kooperieren normalerweise bereitwillig – und zwar die mit dem guten Gewissen, weil sie es haben, und die anderen, um den Eindruck zu erwecken, sie hätten es.
Gewalt durch falsche Erwartungen
Andererseits gibt es in diesem Publikum zahlreiche Gruppen, die es als Verrat werten, wenn einer der Ihren überhaupt mit der Polizei kooperiert. Das Mittel, um sich die Gruppenbilligung zu verdienen und zu erhalten, gewinnt dann den Charakter einer immer wieder zu bestehenden Mutprobe. Es gilt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorzuführen, wie sehr man die Polizisten als solche verachtet – und dies natürlich vor allem dann, wenn sie einem auf offener Straße und vor Zuschauern aus der eigenen Gruppe begegnen.
Trifft eine solche Moral, die man selbstverständlich auch an Gruppen aus weißen Jugendlichen beobachten kann, auf die entgegengesetzten Erwartungen der Polizisten, dann haben beide Seiten einen guten Grund, die Situation mit Hinblick auf andernfalls drohende Gewalt zu sehen. Wo die freiwillige Kooperation verweigert wird, muss den Polizisten die Frage naheliegen, ob sie das erwünschte Verhalten erzwingen sollen. Und allein schon die Aussicht darauf hat eine Reihe von Effekten, die nicht erst dann eintreten, wenn die Schwelle zur offenen Handgreiflichkeit überschritten ist.
Um dies zu verstehen, muss man die bei Collins referierten Forschungen um eine weitere Überlegung ergänzen. Die Aussicht auf überlegene physische Gewalt zerstört eine der Grundlagen sozialer Ordnung: Sie beseitigt die Selbstbindung der Beteiligten durch eigenes Verhalten. Jedes freie Handeln besagt etwas über den Handelnden selbst und verpflichtet ihn damit, auf der einmal gewählten Linie zu bleiben. Wenn einer dem anderen einen Wunsch erfüllt, dann ist er damit auch für andere Gelegenheiten gebunden.
Der Polizist und der Bankräuber
Solche Bindungseffekte des freien Handelns verschwinden jedoch, wenn man ersichtlich nur tut, wozu man andernfalls eben gezwungen würde. Handlungen dieser Art sind dem Handelnden nicht zurechenbar. Sie zeigen nicht seine wahren Einstellungen und können ihn darum auch nicht zur Fortsetzung verpflichten. Er mag die Erwartungen der Polizisten erfüllen, aber das bedeutet keineswegs, dass er ihre Führungsansprüche anerkennt.
Insofern ähnelt die Situation des bewaffneten Polizisten, der keinen Respekt für seine Institution voraussetzen kann, derjenigen des bewaffneten Bankräubers: Der Umstand, dass seine Anweisungen befolgt werden, besagt wenig darüber, was im nächsten Augenblick passiert, und gibt auch keine Garantie dafür, dass etwaige Schwächen nicht sofort ausgenutzt werden.
Wen man bedroht, der handelt aus Furcht und verdient darum auch dann kein Vertrauen, wenn er tut, was man ihm sagt, ja nicht einmal dann, wenn er Zusatzleistungen anbietet. Die richtige Einstellung ihm gegenüber kann nur extremes Misstrauen sein. Man darf ihn nicht einen Augenblick aus den Augen lassen und muss in jeder unerwarteten Bewegung einen Hinterhalt fürchten. Wie das Modell des bewaffneten Banküberfalls zeigt, sind solche Situationen extrem instabil, und der Übergang von möglicher zu wirklicher Gewalt kann nicht nur durch offenen Ungehorsam und auch nicht nur durch berechtigte Furcht des Bewaffneten vor den etwa vorhandenen Waffen der Gegenseite, sondern durch irgendwelche Zufälle ausgelöst werden.
Randall Collins, Seven Reasons Why Police Are Disliked, im Netz unter: https://www.drrandallcollins.com/sociologicaleye; John Van Maanen, The Asshole, in: ders. (Hrsg.), Policing: A View from the Street, Santa Monica 1978.