Soziologie der Herdenimmunität : Die apokalyptische Schäferdichtung
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Gegen den Begriff „Herdeninstinkt“ wandte Sigmund Freud ein, er lasse „überhaupt für den Führer keinen Raum“. Bild: dpa
Wollte der britische Premierminister Boris Johnson Bürgerleben opfern? Der Historiker Carlo Ginzburg untersucht das Konzept der Herdenimmunität quellenkritisch und erteilt dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben eine Lektion.
Zu den Kollateralschäden der gegenwärtigen Pandemie scheint es zu gehören, dass wir im Nebel der Vermutungen den Horizont nicht mehr sehen, medizinisch wie gesellschaftlich. Mit Unsicherheiten zu operieren irritiert Naturwissenschaftler allerdings weit weniger als unsere Intellektuellen. Wie zwielichtig also ist die Situation wirklich, vor allem im Hinblick auf die politischen Implikationen?
Nehmen wir nur jenen Begriff, der in den Medien immer noch ständig gebraucht wird, den des Ausnahmezustands. In Bezug auf Deutschland hat die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff den Terminus klar zurückgewiesen: Kein einziges Grundrecht sei wirksam außer Kraft gesetzt worden. Es war für die getroffenen Maßnahmen in der Tat nicht nötig, dass der Souverän außerhalb der normalen Rechtsordnung steht (und ihr zugleich angehört): Nur so aber kann laut Carl Schmitt der Ausnahmezustand verhängt werden. Der Souverän wäre dann „zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann“.
Dass die „völlig grundlosen Notfallmaßnahmen“ nur (wieder) dazu dienten, autoritäre Strukturen durchzusetzen, davon allerdings ist der italienische Großdenker-Partisan Giorgio Agamben (wie ganz ähnlich Peter Sloterdijk) überzeugt – passt es doch perfekt in sein zeitdiagnostisches Gesamtkonzept. Agamben geht im Rückgriff auf Michel Foucaults Begriff der „Biopolitik“ davon aus, dass der totalitäre Zugriff auf die Individuen längst so universal geworden sei, dass zwischen Diktaturen und Demokratien kaum noch unterschieden werden könne. Jetzt sieht er die Schwelle zur „Barbarei“ überschritten. Für seine Aussagen von Februar und März dieses Jahres, die Corona-Epidemie sei „erfunden“, hat Agamben viel Kritik erfahren, etwa von Alain Finkielkraut.
Es geht freilich auch eine Nummer kleiner. Die Historikerin Anne Applebaum hat mehrfach darauf hingewiesen, wie etwa der ungarische Premier Viktor Orbán die Corona-Krise nutze, um Freiheiten zu beschneiden. Auch ihr soeben erschienenes Buch, „Twilight of Democracy“, das untersucht, warum sich in vielen demokratischen Ländern Eliten vom Autoritarismus angezogen fühlen – oft spiele das Gefühl eine Rolle, vom System nicht angemessen belohnt worden zu sein –, endet mit einem Epilog zur geschehenden Geschichte. Populisten hätten das neuartige Coronavirus genutzt, um sich „emergency powers“ zu sichern, liest man dort. Selbst in den von Populisten regierten Demokratien dürfte nach Carl Schmitt jedoch allenfalls ein „Notstand“ vorliegen, nicht der Ausnahmezustand.
Wo bleibt der sprachliche Bezug?
In Form eines luziden Vortrags an der Universität Rom III hat sich nun auch der italienische Historiker Carlo Ginzburg in die gärende Debatte eingeschaltet. Als Verteidiger des Tatsachenprinzips gegen postmoderne Universalskeptiker hat es Ginzburg zu seinem täglichen Geschäft gemacht, durch detailgenaue Beispielanalysen die Luft aus aufgeblasenen Generalthesen herauszulassen. Ebendas tut er auch in seinem Text mit der Überschrift „Eine Herdendemokratie?“ („Democrazia di gregge?“), der im Online-Magazin „En attendant Nadeau“ in der französischen Übersetzung von Martin Rueff („Une démocratie grégaire?“) zugänglich ist. Dabei scheint der Miterfinder der Mikrogeschichte in einer anregenden Denkbewegung den wieder einmal den Untergang des Abendlands witternden Apokalyptikern sogar entgegenzukommen, um dann wirkungsvoll in die gegenteilige Conclusio abzubiegen.