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Sozialforschung : Wann fühlen sich Menschen wertgeschätzt?

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Keine kollektiven Merkmale, sondern Wissen, Leistungen in der Arbeit oder das persönliche Auftreten sind dafür verantwortlich, ob sich die Deutschen wertgeschätzt fühlen oder nicht. Bild: dpa

Soziale Geringschätzung, Diskriminierung oder Deklassierung scheinen sich tief in die deutsche Seele gefressen zu haben. Doch wie wertgeschätzt man sich fühlt, hat wenig mit Religion oder Herkunft zu tun.

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          Gibt es in unserer Gesellschaft einen grundsätzlichen Mangel an Anerkennung? Dass sich viele, und vielleicht auch immer mehr, nicht ausreichend anerkannt fühlen, scheint ein elementares Krisenphänomen unserer Spätmoderne zu sein. Die soziologischen Studien hierzu sind zahlreich, zuletzt verbreiteten etwa Naika Foroutan und Daniel Kubiak den Befund, in der Erfahrung von Ausschluss und Abwertung fänden sogar die Muslime und die Ostdeutschen ihr verbindendes Element. Seien es die Migranten, die Modernisierungsverlierer, die Geringqualifizierten oder die gesamte Mittelschicht: Das Leiden an gefühlter sozialer Geringschätzung, an Diskriminierung und Deklassierung scheint sich tief in die deutsche Seele gefressen zu haben. Die reagiert mit Politikverdrossenheit, Demokratieunzufriedenheit und der Empfänglichkeit für Rechts- wie Linkspopulismus.

          Die Forschung dazu hat allerdings einen gewichtigen Makel: Sie belegt kollektive Defiziterfahrungen, aber keine individuellen. Inwieweit sich die Menschen auf persönlicher Ebene im alltäglichen Gesellschaftsbetrieb geringgeschätzt fühlten, schreiben Christian Schneickert, Jan Delhey und Leonie C. Steckermeier in einer aktuellen Studie, darüber wüssten wir eigentlich ziemlich wenig. Wie wertvoll fühlen sich die Menschen in Deutschland, die doch angeblich in einer „Abwertungsgesellschaft“ leben?

          Die Forscher gingen dieser Frage mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels von 2016 nach – und kommen zu erstaunlichen Ergebnissen. Laut ihren Befragungen erfahren die Menschen in Deutschland insgesamt ein hohes Maß an Wertschätzung und ein deutlich geringeres Ausmaß an Geringschätzung. Diese „insgesamt positive Anerkennungsbilanz“ gelte auch für die unterste Einkommensgruppe, für die ostdeutsche Wohnbevölkerung ebenso wie für Personen mit Migrationshintergrund. Einzig bei der Gruppe der Arbeitslosen fielen die Geringschätzungserfahrungen fast so stark aus wie die der Wertschätzung. Auch hier sei die Bilanz noch positiv. Wertschätzung erlebten die Menschen vor allem zu Hause in der Familie, Geringschätzung dagegen in der Öffentlichkeit, am deutlichsten beim Besuch von Behörden und Ämtern.

          Geringschätzung ist ein individuelles Problem

          Aber was sind nun Gründe für diese Erfahrungen? Kollektive Merkmale oder individuelle? Eindeutig Letztere. Merkmale wie Wissen, Leistungen in der Arbeit und das persönliche Auftreten würden mit großem Abstand als Gründe für Wertschätzung angegeben. Zugleich seien diese erworbenen Qualitäten, oder ihr Fehlen, für 67 Prozent der Befragten auch die Hauptquelle für Geringschätzung. Zugeschriebene Merkmale wie Alter, Religion, Geschlecht, regionale und ethnische Herkunft sowie sexuelle Orientierung werden hingegen jeweils nur von weniger als 2,5 Prozent der Befragten als vermutete Ursache von Erfahrungen der Geringschätzung angegeben, die sexuelle Orientierung gar nur von 0,2 Prozent.

          Die „Schichtung“ von Wert- wie Geringschätzung sei in unserer Gesellschaft also recht klassisch „vertikal“ verteilt. Soll heißen: nach Einkommen, Bildung und sozialer Stellung, worin sich auch weder „die“ Ostdeutschen noch „die“ Migranten vom Rest der Bevölkerung unterschieden, so das Ergebnis der Studie. Die soziale Anerkennungsbilanz sei damit insgesamt positiv, selbst für strukturell benachteiligte Gruppen. Insofern sei die von dem Kultursoziologen Andreas Reckwitz jüngst diagnostizierte Krise der Anerkennung in der „Gesellschaft der Singularitäten“ zumindest auf der Ebene alltäglicher und persönlicher Erfahrungen kein Phänomen, das die gesamte Gesellschaft betreffe. Die Befunde dieser Untersuchung verwiesen eher auf den Charakter der deutschen Gesellschaft als Wissens-, Konsum- und Arbeitsgesellschaft: Wer in diesen drei Dimensionen nicht „mithalte“, der erfahre systematisch mehr Geringschätzung und weniger Wertschätzung. Wertschätzung beeinflusse dabei die Lebenszufriedenheit stärker zum Positiven als Geringschätzung zum Negativen. Ansonsten bestätige die Studie also bekannte Befunde einer nach dem Einkommen „geschichteten“ Lebenszufriedenheit der deutschen Bevölkerung sowie einer etwas geringeren Lebenszufriedenheit in Ostdeutschland. Demgegenüber unterscheide sich die migrantische Bevölkerung in ihrer Lebenszufriedenheit nicht vom Rest der Gesellschaft, fassen die Autoren zusammen.

          Natürlich widerlegt dieses Ergebnis nicht die Möglichkeit kollektiver Abwertungs- oder gar Diskriminierungserfahrungen dieser Gruppen, etwa wenn im öffentlichen Diskurs mit solchen Stereotypisierungen gearbeitet werde. Während also in einigen neueren soziologischen Studien und in der öffentlichen Diskussion die Geringschätzung insbesondere von Ostdeutschen und der migrantischen Bevölkerung hervorgehoben werde, fänden sich auf der persönlichen Ebene allerdings keine solchen Unterschiede in den vorliegenden Daten – ein bemerkenswerter Befund, so die Autoren der Studie. Im öffentlichen Diskurs ist er leider noch nicht angekommen.

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