Soziale Systeme : Von wegen Klassenbewusstsein
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Der deutsche Sozialstaat hat keinen guten Ruf. Bild: Imago
Wo es große Einkommensunterschiede gibt, sind auch die Armen eher gegen Umverteilung. Verblüffend? Ein italienischer Soziologe hat diese These überprüft.
Der Begriff der sozialen Klasse hat in der Soziologie seine besten Zeiten hinter sich. Konzepte wie Klassenlage oder Klassenbewusstsein spielen im Fach kaum noch eine Rolle. Das liegt zum einen an der Schwierigkeit des Begriffs selbst. Es reicht ja gerade nicht, die Gesellschaft etwa nach dem Haushaltseinkommen zu sortieren, in drei Schubladen einzuteilen und diese Ober-, Mittel- und Unterklasse zu nennen. Wer von Klassen redet, muss auch deren Geschlossenheit unterstellen. Fließende Übergänge und häufige Auf- und Abstiege zwischen den Klassen sprächen dann eher dafür, das Konzept gleich fallenzulassen und statt von einer Klassengesellschaft eher von einer Gesellschaft mit Schichten oder Lagen zu sprechen.
Das ist alles sehr voraussetzungsvoll. Lieber macht man es sich leichter und greift auf unverdächtigere und gut messbare Größen wie Einkommen oder Bildungsabschluss zurück, um etwas über die Zu- oder Abnahme der sozialen Ungleichheit herauszufinden. Es gibt dennoch Studien, die an diesem Konzept festhalten, weil die Klassenlage eben auch die politischen Einstellungen der Menschen präge. Was sie herausfinden, ist durchaus bemerkenswert.
Insbesondere was Fragen der gesellschaftlichen Umverteilung betrifft. Man könne erwarten, dass Angehörige der Arbeiterklasse eher für viel Umverteilung von oben nach unten sind und die Besitzenden oder Wohlhabenden für weniger. Wenn also die soziale Ungleichheit zunimmt, müssten auch die Ungleichheit der Einstellungen dazu zunehmen: Oben sollte man immer weniger für Umverteilung sein und unten immer mehr. Stimmt das?
Zunehmende Ungleichheit verringert Unterschiede der Einstellungen dazu
Der italienische Soziologe Renzo Carriero hat diese These mit Hilfe der Befunde der „European Values Study (EVS)“ von 2008 überprüft. Die enthält Daten aus 44 europäischen Ländern. Das Ausmaß der sozialen Ungleichheit wird in der EVS mit Hilfe des einschlägigen Gini-Koeffizienten gemessen. Den Teilnehmern der Studie wurden zwei Meinungen vorgelegt, zu denen sie sich zustimmend oder ablehnend äußern konnten: „Einkommensunterschiede sollten verringert werden“ sowie „Es sollte größere Einkommensunterschiede als Anreize für persönliche Leistung geben“.
Natürlich ist sich Carriero bewusst, dass sich diese 44 Länder extrem hinsichtlich ihrer sozialpolitischen Grundlagen unterscheiden. Dies berücksichtigt, kann man dennoch einen positiven Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Klassendifferenzen bei den Einstellungen erwarten: Nimmt die Erstere zu, sollten auch Letztere wachsen.
Die Ergebnisse Carrieros aber zeigen überraschenderweise einen negativen Zusammenhang: Mit Zunahme der Ungleichheit verringern sich die Unterschiede der Einstellungen dazu. Das liege nicht daran, dass die Reichen plötzlich ihr soziales Gewissen entdeckten und sich für mehr Umverteilung starkmachten, sondern vielmehr daran, dass die Ärmeren ebenso für weniger soziale Gleichheit plädieren. Sie denken sozusagen wie die Wohlhabenden und „vergessen“ ihre eigentlichen Interessen.
Akzeptanz der Ungleichheit nehme mit ihrem Ausmaß tatsächlich zu
Das ist verblüffend und sehr erklärungsbedürftig. Die EVS enthält zum Glück genügend Daten, um hier alle erdenklichen Gründe zu überprüfen. Da wären zunächst die Sozialausgaben. In Ländern mit besonders hohen Sozialausgaben könnten die unteren Schichten es sich gewissermaßen eher leisten, wie die Wohlhabenden zu empfinden. Carriero muss aber feststellen, dass die Höhe der nationalen Sozialausgaben auf seinen Befund keinen Einfluss hat. Der beobachtete Widerspruch zwischen Klassenlage und Klassenbewusstsein ändert sich nicht.
Hat es dann etwas damit zu tun, wie die Befragten über die Gründe von Armut denken? In Gesellschaften, wo Armut im Wesentlichen als eine Folge von individueller Faulheit und entsprechendem Mangel an Leistungswillen betrachtet wird, ließe sich soziale Ungleichheit eben auch als individuelle Schuld legitimieren, die nur durch eigene Anstrengungen überwindbar wäre. Aber auch in Kulturen, wo Armut mehrheitlich als inakzeptables Unrecht des ökonomischen Systems gilt, zeigt sich in der EVS der beobachtete Effekt.
Carriero verhehlt nicht, dass er das Rätsel seiner Befunde nicht ganz erklären kann. Aber er stellt eine provokante Möglichkeit vor: Es gebe nämlich schon aus früheren Studien Hinweise darauf, dass die Akzeptanz sozialer Ungleichheit mit ihrem Ausmaß tatsächlich zunimmt. Das wäre fast eine Art Selbstlegitimation durch schiere Größe. Wo die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen oben und unten, Reich und Arm so unübersehbar und mächtig werden, wie es inzwischen in den westlichen Volkswirtschaften zumindest den Anschein hat, wäre der Egalitarismus fast so etwas wie die Gesinnung der Verlierer. Und zu denen wolle man auch am unteren Ende der Einkommenspyramide anscheinend nicht mehr gehören. Auf die aktuelle Debatte um die sogenannte neue soziale Ungleichheit gerade in Deutschland wirft dieser Befund jedenfalls ein ganz neues Licht.
Renzo Carriero: More Inequality, Fewer Class Differences: The Paradox of Attitudes to Redistribution Across European Countries, in: Comparative Sociology 15 (2016), 112-139.