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Soziale Systeme : Die anderen kaufen mit

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Ob die wohl schmeckt? Im Experiment würden die meisten Studienteilnehmer Edelschokolade kaufen, auch wenn die Gastgeberin auf billige steht. Bild: dpa

Warum orientieren sich Menschen bei Entscheidungen so gerne an Gesichtspunkten des Status? Eine amerikanische Studie meint die Antworten gefunden zu haben.

          3 Min.

          Es ist eine robuste Beobachtung der Soziologie sozialer Ungleichheit, dass das Leistungsprinzip zwar allgemein geschätzt, aber nur unvollständig umgesetzt wird. Alle sind der Meinung, dass Auswahl und Förderung von Individuen sich auf Verdienste stützen sollten. Dennoch erhöht es oft die Chancen, aus der richtigen Familie und der richtigen Schicht zu stammen. Die Meritokratie ist nicht nur bei individuellen Karrieren unvollkommen verwirklicht. Auch beim Einkauf zählen keineswegs nur Preis und Leistung. Häufig greifen die Konsumenten zu einem Produkt, weil die Werbung sie überzeugt oder sie die Marke kennen. „Weil Sie es sich wert sind“ – dieser bekannte Werbeslogan könnte auch lauten: „weil unsere Produkte den Aufpreis wert sind“.

          Die Wirtschaftssoziologen sprechen in solchen Fällen – ähnlich wie die Ungleichheitsforscher – von „Statusvorteilen“. Man verlässt sich auf den guten Namen oder auf von anderen verliehene Prädikate, obwohl eine eigenständige Prüfung sinnvoll und gerechter wäre. Das liegt nicht am bösen Willen oder Standesdünkel der Beteiligten, sondern daran, dass eine Prüfung von Leistungskriterien einerseits zeitraubend und andererseits mit Blick auf zukünftige Leistungen niemals zuverlässig ist. Status sollte deshalb vor allem dann eine Rolle spielen, wenn die Beurteilung von Leistungen zu schwierig oder zu aufwendig wäre.

          Entscheidung wird von anderen bewertet

          Ein Team amerikanischer Soziologen der Stanford University und des MIT argumentiert jedoch in einem kürzlich erschienenen Aufsatz, dass diese rationale Erklärung von Statusvorteilen zu kurz greift. Es liegt, so ihre These, nicht an beschränkten Ressourcen des Entscheiders, dass Status eine Rolle spielt, sondern an Dritten, an denen er sich orientiert. Eine Entscheidung muss nämlich häufig vor anderen vertreten und von diesen goutiert werden: Kollegen, Vorgesetzte oder unabhängige Institutionen könnten die Entscheidung prüfen und anzweifeln. Um dann auf der sicheren Seite zu sein, fragt man sich besser bereits vorher, wie die anderen entscheiden würden. Das erfordert, so die Autoren, einen Schluss „zweiter Ordnung“, wenn es um konkrete andere geht, oder sogar „dritter Ordnung“, wenn der Konsens mit anonymen Dritten angestrebt wird.

          Um diese These zu prüfen, wurden drei Experimente durchgeführt. Schon die Ausgangssituation des ersten Experiments zeigt, wie unscharf Urteile über Qualität sein können: Die Teilnehmer wurden gebeten, zwei neutral verpackte Sorten Schokolade zu testen und zu bewerten. Obwohl die Proben der gleichen Schokolade entnommen worden waren, notierten die Probanden durchaus Qualitätsunterschiede und Präferenzen zugunsten einer Probe. Dies war aber in diesem und in den beiden anderen Experimenten nur der Ausgangspunkt. In der Folge wurde geprüft, ob die Probanden ihre Urteile ändern, wenn sie die Meinungen anderer zu berücksichtigen haben.

          Auch Personalentscheidungen abhängig von Dritten

          In einem zweiten Experiment wurde dafür eine Personalentscheidung simuliert: Die Probanden sollten über die Einstellung eines Polizeichefs anhand zweier Resümees entscheiden. Erst im zweiten Schritt wurde ihnen mitgeteilt, in welcher Stadt der Polizeichef eingesetzt werden sollte: entweder in einer „traditionell“ geprägten Stadt in Kansas oder in einer „progressiven“ Stadt an der Ostküste. Dann wurde das Geschlecht der beiden Bewerbungen mitgeteilt und den Probanden vorgegaukelt, sie hätten sich für die Frau entschieden. Würden sie ihre Entscheidung in der zweiten Runde, abhängig vom nunmehr bekannten Status der Personen, ändern?

          Immerhin würde dies bedeuten, gegen die Norm der Gleichberechtigung zu verstoßen. Wenn das in den beiden Städten zu erwartende Publikum dies nahelegte, waren die Befragten dazu durchaus bereit: Für den Einsatzort in Kansas hielten beinahe ein Viertel dann doch den Mann für besser geeignet, obwohl sie zuvor die Frau bevorzugt hatten. Für die Ostküste änderten deutlich weniger Teilnehmer ihre Meinung. Das Merkmal Geschlecht beeinflusste die Entscheidung in Abhängigkeit davon, ob die betroffenen Dritten eine Frau als Polizeichef akzeptieren würden.

          Glaube an Statusmerkmale

          Das dritte Experiment schließlich zeigt, dass die Orientierung am Status nicht lediglich zur Anpassung an die Präferenzen anderer führt, sondern sich sogar gegen diese Präferenzen durchsetzen kann. Dies wurde wieder an Schokolade vorgeführt. Diesmal sollte sie ein Geschenk an eine Gastgeberin darstellen, deren Vorliebe für Billigschokolade bekannt war. Mehr als die Hälfte der Befragten wollten sie dennoch mit der Luxusschokolade beglücken – weil sie diese ungeachtet des Geschmacks der Betroffenen für ein „eindrucksvolleres“ Geschenk hielten.

          Prestige und Status werden also herangezogen, weil sie scheinbar die Bewertung unbeteiligter Dritter vorwegnehmen. Statusorientierung kann so zur „self-fulfilling prophecy“ werden: Weil alle unterstellen, dass alle anderen Statusmerkmale für wichtig halten, richten sie ihre eigene Entscheidung daran aus – auch wenn das heißt, dass die Schokolade nicht so gut schmeckt und der Kollege zwar einen guten Namen und das richtige Geschlecht hat, aber weniger leistet.

          Correll, Shelley J., et al. (2017): It’s the conventional thought that counts. In: American Sociological Review, 82 (2), S. 297-327.

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