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Selbstgespräche : Wortschwall im Gehirn

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Das reflektierte Ich: Viele Menschen sind im Dialog mit sich selbst. Bild: plainpicture/harry + lidy

Wir verbringen ein Viertel unserer Zeit mit lautlosen Debatten und Monologen im Kopf. Wann ist ein Selbstgespräch noch normal – und wann wird es zum Problem?

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          Manchmal sprechen wir mit jemandem, der schon lange tot ist, oder wir führen dieselbe Unterhaltung immer und immer wieder - alles im Kopf, alles völlig lautlos und alles ohne dass jemand etwas davon bemerkt. Sprechen, und dazu gehört auch das innere Sprechen, ist Teil unseres Selbst. Dass wir reden und über Wörter kommunizieren, unterscheidet uns ganz wesentlich von allen anderen Lebewesen. Trotzdem sprechen wir nicht gern über das tägliche Stimmengewirr in unserem Kopf, weil wir nicht genau wissen, welche Funktionen es hat, was davon normal ist und was vielleicht krankhaft sein könnte.

          Immerhin hören drei Viertel der Menschen mit einer diagnostizierten Schizophrenie innere Stimmen. Wenn uns jemand von seiner Kakophonie im Kopf erzählt, gleichen wir das automatisch mit dem ab, was wir innerlich reden und hören. Dass inneres Sprechen zunehmend zum öffentlichen Thema geworden ist, hat mit Charles Fernyhough von der Universität Durham zu tun. Der Engländer hat Stimmen im Kopf faktisch salonfähig gemacht. Sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch „The Voices Within“ gehört nicht nur zu den besten Wissenschaftsbüchern der jüngeren Zeit. Es belegt auch, wie groß der Wunsch ist, mehr über die stummen Gespräche mit sich selbst zu erfahren.

          Fernyhough stellt bei seiner Suche viele Fragen: Wann setzt der Stimmenchor in unserem Kopf ein? Was unterscheidet inneres Sprechen von Halluzinationen, und was ist von den inneren Stimmen einer mittelalterlichen Mystikerin wie Margery Kempe zu halten? Er hätte auch Hildegard von Bingen oder Johannes vom Kreuz nennen können. Fernyhough bleibt zwar viele Antworten schuldig, doch er gibt wichtige Einsichten: Er belegt, dass sich äußeres und inneres Sprechen zusammen entwickeln - ein Konzept, das auf den russischen Psychologen Lew Wygotski zurückgeht.

          Kinder üben mit Selbstgesprächen den Dialog

          Wygotski hatte in den zwanziger Jahren beobachtet, dass kleine Kinder fortlaufend Selbstgespräche führen, nachdem sie sprechen gelernt und die Phase des wortlosen Denkens hinter sich gelassen haben. „Ich nehme eine Schiene und setze einen Zug drauf“, zitiert Fernyhough seine zwei Jahre alte Tochter Athena. „Zwei Züge.“ Kinder sprechen aus, was sie als Nächstes tun werden, bevor sie es tatsächlich tun. Sie planen ihre Handlungen durch lautes Sprechen. Fernyhoughs Tochter sagt: „zwei Züge“, bevor sie einen weiteren Waggon in die Hand genommen und auf die Schienen gesetzt hat.

          Kinder üben durch diese lauten Selbstgespräche auch den sozialen Dialog, etwa wenn sie mit ihren Puppen oder Stofftieren reden. Wygotski war der Ansicht, dass diese lauten Selbstgespräche lautlos weitergeführt werden, wenn die Kinder älter sind und die Phase des Spracherwerbs hinter sich gelassen haben. Sie verschwinden also nicht einfach, das äußere Gespräch wird zum inneren Dialog mit sich selbst. Wygotskis Konzept zur Herkunft dieses inneren Sprechens sei immer noch das beste, was es bisher gebe, schreibt Fernyhough in seinem Buch. Gelänge es zu zeigen, dass kleine Kinder nicht innerlich reden, wäre dies ein starker Beleg für diese Theorie. Allerdings ist der Nachweis schwierig, weil kleine Kinder noch nicht die verbalen Fähigkeiten haben, über diese Erfahrungswelt detailliert zu berichten.

          Dieser Artikel stammt aus der Frankfurter Allgemeine Woche

          Auch eine Art von Selbstgespräch: Julius Cäsar in einem Asterix-Comic
          Auch eine Art von Selbstgespräch: Julius Cäsar in einem Asterix-Comic : Bild: Les Editions Albert René/Uderzo-Goscinny

          Charakteristisch für das innere Sprechen ist vor allem seine Vielfalt. Die Stimme in uns kann erzählen, argumentieren oder auch scherzen. Sie kann schreien, flüstern oder tuscheln. Sie kann einen kurzen Gedankenblitz vermitteln und in Form langer Mono- oder Dialoge daherkommen. Die Sätze können lang und ausladend sein oder extrem komprimiert und sehr verkürzt. Fernyhough schreibt in seinem Buch, dass wir innerlich mit bis zu viertausend Wörtern je Minute reden. Das ist zehnmal schneller als bei jeder normalen Konversation. Beim inneren Sprechen machen wir keine vollständigen Sätze, weil wir wissen, was wir zu sagen haben. Manche Stimmen im Kopf besitzen auch eine Klangfarbe, einen Rhythmus und einen Akzent. Viele Schriftsteller sagen zum Beispiel, dass sie ihre Romanfiguren im Kopf mit einer eigenen, charakteristischen Stimme sprechen hören. Es gibt auch Sätze, die sich gar nicht ohne Stimme im Kopf lesen lassen. „Mein Name ist Bond. James Bond“ ist einer dieser Sätze, den wir vor allem mit seinem Tonfall und der einprägsamen Sprachmelodie zur Kenntnis nehmen.

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