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Religion und Spiritualität : Wahr ist, was Halt gibt?

Je mehr die institutionelle Religiosität abnimmt, desto stärker wird die Ware „Spiritualität“ nachgefragt. Das bildet sich zuerst auf dem Buchmarkt ab.

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          Hauptsache, es hilft! Wem wäre dieser Gedanke nicht schon gekommen, wenn die „Grenzsituation“ (Karl Jaspers) wieder einmal das Gefühl tauber Entgrenzung aufkommen lässt. Dann gilt es, die Sinne zu orientieren: Ein freundliches oder unfreundliches Wort vom Bäcker verlebendigt nicht weniger als das restlose Aufgehen in einer Tätigkeit, die wie von selbst vor sich geht (Flow), um welche Art Absorbiertwerdens es dabei auch immer gerade geht. Hauptsache, es hilft – gegen die Verpeilung im Horror Vacui.

          Christian Geyer-Hindemith
          Redakteur im Feuilleton.

          Orientiert zu sein, sich von einem alltäglichen Anhaltspunkt zum nächsten zu hangeln, das kann in Situationen existenziellen Aufgeschmissenseins zum therapeutischen Selbstzweck werden. In diesem Sinne wird ja auch dem melancholischen Menschen geraten, „unter Leute“ zu gehen. Unter Leuten gibt es Anhaltspunkte vitaler Art: ästhetische, intellektuelle, sie stimulieren den affektiven und rhetorischen Apparat; das Moment des Hingerissenseins setzt Überschüsse frei, die aus der Leere reißen ins Lebendige hinein. Wer möchte da zunächst nach Wahrheit fragen? Wahr ist auf der Linie bestimmter Spielarten pragmatistischer Wahrheitstheorie denn auch das, was Halt gibt und den Eindruck des Orientiertseins vermittelt.

          Es ist eine solche kollektive psychische Situation, in der die Spiritualität sich als Lebenshilfe des Religiösen empfehlen möchte. Spiritualität als Sammelbegriff mentaler Strategien gegen die Verlorenheit boomt. Je mehr die institutionelle Religiosität abnimmt, desto stärker wird die Ware „Spiritualität“ nachgefragt. Das bildet sich zuerst auf dem Buchmarkt ab. Hören wir dazu Konrad Höß, Geschäftsführer des Katholischen Medienverbands, dem 120 Medienunternehmen angehören, von christlichen Publikumsverlagen bis zu theologischen Fachzeitschriften. Höß wird in einem Agenturbericht zur Buchmesse wie folgt zitiert: „Je weniger Relevanz die Kirchen im Leben der Menschen haben, desto weniger In­ter­esse hat man an entsprechenden Buchtiteln. Das gilt übrigens nicht oder zumindest nicht in gleichem Maße für Titel zur Spiritualität oder der sogenannten Le­benshilfe, die ja auch in unseren Verlagen erscheinen. Aber man kann schon sagen: je näher an der verfassten Kirche, desto geringer das Interesse.“

          Spiritualität macht gleichsam als religiöse Nutzanwendung von sich reden. Endlich ist Religion zu etwas nutze: Sei „spirituell“! Detlef Pollack ist einer der wenigen Religionssoziologen, die hier Wasser in den Wein der Spiritualität gießen. Auf einem Münchner Kolloquium zum Thema „Spiritualität mit oder ohne Gott“ nahm der Religionsphilosoph Thomas Schmidt die Kritik Pollacks an religionssoziologischen Ansätzen auf, für die Säkularisierung ausschließlich einen Formwandel von Religion darstelle (und nicht etwa einen religiösen Substanzverlust bedeute). Pollack hält das für zu kurz gedacht, weil die Konzentration auf Spiritualität das Phänomen des Religiösen unterbelichte, es in Reihungen der Orientierung aufgehen lasse, deren religiöse Zuschreibungen willkürlich wirkten. Sinn macht eben alles, was hilft. Die Wahrheitsfrage der Religion bleibt als eine pragmatistische jedoch unterbestimmt.

          Tatsächlich kann Religion in der Per­spektive funktionalistischer Theorien gar nicht verschwinden, sondern allenfalls transformiert und umcodiert werden. Viele Kritiker der Säkularisierungstheorie, so stellte Schmidt im Anschluss von Pollack fest, verwendeten einen sehr weiten Begriff von Religion, der sie mit sinnhafter Orientierung überhaupt gleichsetze. Wobei die Sinnkategorie instantane, situative Sinngebungen (Bäcker-Worte, Flow-Erlebnisse – siehe oben) ebenso umfasst wie autobiographische Narrative unter der Großfrage: „Wozu das alles?“ (Christian Uhle, Fischer Verlag 2022).

          Demnach spiele, um ein Beispiel zu nennen, in funktionalistischer Sicht der freihändige Umgang mit unsichtbaren Wesen aus der Engels- und Dämonensphäre (ein noch immer favorisiertes Thema auf dem Buchmarkt der Spiritualitäten) in ein und derselben inhaltlichen Liga mit dem kirchlich überlieferten Gebet zum Erzengel Michael: „Verteidige uns im Kampfe, gegen die Bosheit und die Nachstellungen des Teufels sei du un­ser Schutz!“ Die begrifflich streng kon­trol­lierte Engellehre des Thomas von Aquin ist aber gerade nicht der Ordnungsrahmen, in dem auch die außer Rand und Band geratenen Dämonen der Spiritualitätsforschung Unterschlupf fänden. Die Orientierungsleistung des Aquinaten ist eine rational verfasste Erkenntnislehre, in der jedem Dämon sein heilsgeschichtlicher Platz zugewiesen wird. Derweil die Spiritualitätsforschung sich auch beim Sujet der Engel mit dem Aufweis innerer Erlebniswerte begnügt.

          Es fragt sich, ob die „praktisch-psychische Dimension innerer Erfahrung“ (Thomas Schmidt) ohne eine nicht bloß praktisch-psychisch orientierte Wahrheitsfrage auskommt. In der Mystik institutionalisierter Religionen bleibt letztere präsent, und so wäre es kein Verlust, wenn die Theologie auf den entgrenzten Spiritualitätsbegriff verzichtete.

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