Rechte ohne Pflichten : Gibt es etwas für nichts?
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In Familien kommt oft die Frage auf, wie das Geben und Nehmen im Alltag funktioniert. Bild: dpa
Kann es jenseits der Familie Pflichten ohne Rechte und Rechte ohne Pflichten geben? Ein Beispiel dafür ist unser Staat – jedoch erfolgt ein Ausgleich auf Umwegen.
Die ersten Gesellschaftstheoretiker, die in das Leben eines Kindes eindringen, sind seine Eltern, und zwar mit einem Vorlesungsthema, für das wissenschaftliche Soziologen den Begriff der Reziprozität verwenden: Das soziale Leben beruhe nun einmal auf Gegenseitigkeit, und Leistungen empfangen könne daher nur, wer auch zu Gegenleistungen bereit sei. Als Theorie der Familie wäre das damit angedeutete Tauschmodell mit Sicherheit falsch. Denn wie schon Max Weber erkannte, gelten hier eher die Verteilungsregeln des Kommunismus: Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen. Wer klein oder krank ist, muss sich die beanspruchte Hilfe nicht erst noch verdienen. Und wer groß und gesund ist, muss aushelfen, ohne auf den Tauschwert der Hilfe zu schielen. Auf den genauen Ausgleich von Leistungsbilanzen kommt es also „unter Brüdern“ nicht an.
Aber trifft das Tauschmodell der Eltern dann wenigstens auf die Gesellschaft zu? Ein Argument zu ihren Gunsten könnte lauten: Unausgeglichene Sozialbeziehungen, in denen der eine nur gibt und der andere nur nimmt, führen in der Regel zu berechtigten Beschwerden des Nur-Gebers gegen den Nur-Nehmer. Sie verletzen die Alltagsmoral, das Gerechtigkeitsgefühl, gegebenenfalls das Vertragsrecht. Aber kann es nicht auch Sozialbeziehungen geben, die nicht gegen das Recht, sondern in voller Übereinstimmung mit ihm einseitig sind und einseitig bleiben? Kann es Fälle geben, in denen der eine nur Rechte hat und der andere nur Pflichten? Das klingt zunächst unplausibel: Warum sollte der so Verpflichtete tun, was der so Berechtigte von ihm erwartet? Der älteren, vormodernen Vorstellung von Recht lag ein solcher Gedanke ganz fern. Für sie war das Recht des einen immer schon mit ausgleichenden Pflichten gegen den anderen verbunden und kraft dieser Verbindung als Recht vorstellbar. Der Gegenbegriff zu Recht war daher nicht Plicht, sondern Unrecht.
Kein Abfall von dieser Ordnung, sondern ihre Ergänzung
Dem amerikanischen Soziologen Alvin Gouldner, der vor einhundert Jahren geboren wurde, sind zwei Beispiele eingefallen, in denen der eine „etwas für nichts“ hergeben soll, während der andere „etwas für nichts“ empfangen darf: die institutionalisierte Ausbeutung nach dem Muster der Sklaverei und die institutionalisierten Abgabepflichten der Reichen, die den Armen aushelfen sollen, ohne auf irgendeine handfeste, irgendeine diesseitige Erwiderung hoffen zu können. Aber gerade die Rechtsbeziehung zum Sklaven war ja, sosehr uns das heute befremden mag, nach dem Modell der Beziehung eines Eigentümers zu seinen Sachen und also gerade nicht als Sozialbeziehung begriffen worden. Und dass der moralischen „Pflicht“ des Reichen zur Wohltätigkeit kein Recht gerade dieses Armen auf Nothilfe entspricht und entsprechen kann, sieht Gouldner auch selbst.
Nun war Gouldner weder Rechtssoziologe noch gelernter Jurist. Vielleicht liegt es daran, dass die wirklich überzeugende Antwort auf seine Frage erst einem seiner Kollegen einfiel: Niklas Luhmann, der beides zugleich war. Seine Antwort lautet: Doch, es gibt solche einseitigen Rechtsbeziehungen, die moderne Gesellschaft ist sogar voll von ihnen, und jeder von uns ist abwechselnd als Nur-Geber oder als Nur-Nehmer gefragt. Dem Polizisten, der mir nach einem Einbruch hilft, schulde ich keine Mithilfe beim bevorstehenden Umzug seiner Wohnung. Der Umstand, dass ich Sozialhilfe beziehe, verpflichtet mich nicht dazu, regierungskritische Äußerungen zu unterlassen. Und wenn der Staat meine Steuern zu erhöhen wünscht, dann darf er dies tun, ohne mir im Austausch dafür irgendwelche Vergünstigungen zu versprechen. Es mag politisch opportun sein, die Mehrbelastung sogleich zu kompensieren, aber juristisch ist das nicht nötig, und auch politisch geschieht es durchaus nicht in jedem Fall.
Wie das Beispiel der Steuererhöhungen schon andeutet, sieht Luhmann den großen Vorteil dieser einseitigen Berechtigungen darin, dass man sie isoliert ändern kann, ohne bei jedem Eingriff ganze Komplexe von Rechten und Pflichten neu ausbalancieren zu müssen. Das einseitige, von den Juristen auch „subjektiv“ genannte Recht passt also in eine Gesellschaft mit starkem Änderungsbedarf und einer auf Hochtouren laufenden Gesetzgebungsmaschinerie. Aber es gibt auch zwei Nachteile. Der eine liegt darin, dass Gegenseitigkeit zur Mäßigung erzieht. Solange der andere auch Rechte gegen mich hat, werde ich mich hüten, meine Rechte gegen ihn voll auszunutzen, denn er könnte sich dafür rächen. Im Fall der einseitigen Berechtigung gibt es für solche Nachgiebigkeit kein Motiv.
Der andere Nachteil liegt darin, dass man die Frage nach der Gerechtigkeit zwar in der einzelnen Rechtsbeziehung übergehen kann, nicht aber schlechthin. In einer Gesellschaft, die lokal auch unausgeglichene Rechtsbeziehungen zulässt, muss der Ausgleich auf Umwegen hergestellt werden. Der Steuerstaat und der Sozialstaat sind also, anders als die liberale Staatslehre es sah, kein Abfall von dieser Ordnung, sondern ihre Ergänzung.
Alvin W. Gouldner, Reziprozität und Autonomie, Frankfurt 1984; Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt 1981.