Oswald Eggers Poetik : Buchstabensalat, marktfrisch in Marbach
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Was war es bloß, was diesen Dichter ticken ließ, fast wie eine Maschine? Ein Leser, der den Entstehungsprozess von Oskar Pastiors Gedicht „What makes the poet tick“ am Manuskript nachverfolgt, kann am Ende das Gefühl haben, dass seine Reiseroute einer Brezel gleicht. Bild: DLA Marbach
Rückverweise auf Pastior: Der Germanist Ralf Simon befragt in Marbach den Dichter Oswald Egger. Ihr gemeinsames Interesse ist die Tradition des poetischen Experiments.
Wann geht das Leben wieder los? In der Literatur ist es längst losgegangen, Leipziger Buchmesse hin oder her. Mit der neuen Lust am Leben beschäftigt sich die Literaturwissenschaft intensiv: biographisch, politisch, sozial. Sie fragt nach den ästhetischen Kniffen der Autofiktion und dem diagnostischen Wert der genauen Beschreibung, aber auch nach den Brotjobs der Autoren und den Umständen ihres Schreibens. Angrenzende Disziplinen wie die Soziologie haben die Impulse aufgenommen: So viel Leben war in der Literatur lange nicht mehr.
Da ist es schon ganz schön mutig, wenn das Deutsche Literaturarchiv Marbach jetzt nach der Selbstreferenz von Literatur fragt, danach also, wie Zeichen sich auf Zeichen beziehen, wie Texte nicht auf die Welt, sondern auf sich selbst verweisen. Ist das Archiv nicht ein guter Ort für solche Überlegungen? Schließlich hat die Frage Tradition: Sie kommt nicht mit den Avantgarden auf, auch nicht mit dem Zeitalter der Aufklärung. Sie lässt sich zurückverfolgen bis zu den antiken Poetiken.
Der Stoff, aus dem die Wörter sind
Die Hochzeiten der zeichentheoretischen Theoriedebatten koinzidieren mit Marbacher Sammlungsschwerpunkten. Liegen sie doch im zwanzigsten Jahrhundert, als in semiotischen, strukturalistischen oder poststrukturalistischen Theoriewellen literarische Selbstbezüge gefeiert und erkundet wurden. Mit der aktuellen Ausstellung „punktpunktkommastrich“ (noch bis zum 24. Juli) haben die Marbacher Literaturmuseen diese Fäden aufgenommen. Spielerisch nähern sie sich dem Buchstabenstoff, aus dem die Wörter sind, wenn sie etwa den Lyrik-Schaltplan aus dem Nachlass Oskar Pastiors zeigen.
Zum Gespräch über Zeichen und Texte hatte Marbach in der vorigen Woche eingeladen: den Schriftsteller Oswald Egger und den Literaturwissenschaftler Ralf Simon. Egger, der 2010 mit dem Oskar-Pastior-Preis ausgezeichnet wurde, erschafft Textkompositionen, die sprachliche Räume vermessen. Seit 2011 hat der 1963 geborene Autor an der Kieler Kunsthochschule eine Professur für Sprache und Gestalt. Zu poetischen Fragen hat er sich immer wieder geäußert: Seine Münchner Rede zur Poesie stand 2021 unter dem Titel „Welten von A–Z“.
In Marbach vertrat Egger einen tentativen Ansatz, der festen Zuschreibungen immer wieder die Ambiguitäten und Kippfiguren gegenüberstellte. Auf „Oskar“ und dessen Lyrik-Schaltplan kam Egger immer wieder zurück. Wie wird das Zeichen zur Poesie? Solchen „tückischen Wie-Fragen“ näherte er sich in einem Ausweichmanöver, wenn er auf Pastiors Lieder und Balladen aus dem „Krimgotischen Fächer“ verwies.
„What makes the poet tick?“ Ist die Frage schon beantwortet, wenn man wie Pastior in seinem Schaltplan das E mit dem E oder das S mit dem S verbindet? Durch den Marbacher Abend führte der Basler Literaturwissenschaftler Ralf Simon, der sich seit Jahren mit Sprachexperimenten von Jean Paul über Arno Schmidt bis zu Oswald Egger beschäftigt. Ein Band mit intensiven Egger-Lektüren, den Simon mit Martin Endres herausgegeben hat, ist soeben in der Reihe „Theorie der Prosa“ bei De Gruyter erschienen: „Wort für Wort“ (auch Open Access). Im abendlichen Zoom-Universum war es an Simon, Eggers Überlegungen theoriegeschichtlich einzuordnen und durch Rückfragen weiterzutreiben.
Auf Umwegen der Tautologie entkommen
Eggers „einräumendes Zurückweichen“ deutet Simon als Aufgabe der Kunst, die kulturelle Umwege gehen müsse, um der Gefahr selbstbezüglicher Tautologie zu trotzen. Besonders interessierte Simon sich für die Textflächen in Eggers Büchern: zwischen geometrischer Strenge und assoziativer Bilderwelt. Simon gelang es dabei, Egger einige Produktionsgeheimnisse aus der Werkstatt zu entlocken.
Egger verriet, wie er die Magie mathematischer Modelle in literarische Textproduktion übersetzt, wie er selbst Modelle baut, mit deren Hilfe sich Textwelten erschaffen lassen, wie er diesen Weg experimentell ausreizt, in die Fülle der Überproduktion treibt. Er erzählte von den vielen immer vollen Schreibtischen – Eggers Texte entstehen auf dem Papier, nicht am Computer. Und er ließ das Publikum teilhaben am Wechsel der Tische: wie das Zeichnen für ihn als Trigger fürs Schreiben wirken könne.
Selbst- und Fremdreferenz von literarischen Zeichensystemen: Im Archiv ist beides vertreten und verwoben – das will auch die Marbacher Ausstellung zeigen, bei der das Gespräch seinen Ausgang nahm. Nicht nur Pastiors Anagrammgedicht, das den Antrieb des Dichters in Buchstabenreferenzen auflöst und die einzelnen Buchstaben durch Linien miteinander verbindet: „His wet hat kept me tacko.“ Ist das S wirklich nur ein S, das auf sich selbst verweist? Oder steht es doch für die Securitate, den rumänischen Geheimdienst, für den auch Pastior tätig war?
Wie sich Diktaturerfahrungen auf Themenwahl und Formentscheidungen auswirken, lässt sich durch die Analyse von Verweisungssystemen nicht erkunden. Dafür braucht es den Umweg über das Leben, den Fachdebatten gegenwärtig einschlagen. Angesichts des hohen Grades der Politisierung und Biographisierung der heutigen Literaturwissenschaft war die Marbacher Diskussion eine erfrischende Zeitreise.