Suizidgefahr bei Jugendlichen : Verzweiflung ist nicht alles
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Einsam und unverstanden: Hannah Baker in der Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“. Bild: dpa
„Tote Mädchen lügen nicht“: Nach der umstrittenen Netflix-Serie fordern Psychiater eine andere Darstellung der Suizidgefährdung Jugendlicher.
Im Internet wird gerade kontrovers über die amerikanische Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“, im Original „13 reasons why“ diskutiert. Soll man solche Filme verbieten? Oder helfen sie Jugendlichen, weil sie Tabuthemen ansprechen? In der Serie bringt sich die Highschool-Schülerin Hannah Baker um. Sie hinterlässt Audiokassetten, auf denen sie 13 Gründe dafür nennt. Sie wurde gestalkt, beschimpft und belästigt, sie erzählt von Mobbing und Ausgrenzung, dass man intime Fotos von ihr veröffentlichte und sie vergewaltigt hat.
Jetzt haben parallel zwei Forschergruppen in einer Veröffentlichung gezeigt, dass die Serie möglicherweise andere Jugendliche zum Selbstmord brachte. Diesen „Nachahmereffekt“ kennen Psychiater beim Suizid bekannter Persönlichkeiten, etwa Robin Williams. „Ob das aber auch bei fiktiven Geschichten so ist, war bisher nicht klar“, sagt Thomas Niederkrotenthaler, Leiter der einen Studie und Suizidforscher an der Medizinischen Universität Wien. Er berechnete, dass sich nach dem Start der Serie Ende März 2017 in den folgenden drei Monaten 13 Prozent mehr zehn- bis neunzehnjährige Teenager umbrachten als erwartet. Statistisch wären es 710 Suizide, tatsächlich waren es aber 94 mehr. Die Forscher der anderen Studie aus Ohio beobachteten im April 2017 eine um fast dreißig Prozent höhere Suizidrate als in den Monaten zuvor – das entsprach der höchsten monatlichen Rate der vergangenen fünf Jahre.
Nehmt die Filmemacher stärker in die Pflicht
„Jugendliche denken oft daran, sich das Leben zu nehmen“, sagt Paul Plener, der jahrelang an der Uniklinik in Ulm gearbeitet hat und jetzt die Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik in Wien leitet. „Die Hormone spielen verrückt, im Gehirn finden neurobiologische Umbauvorgänge statt, die jungen Leute wollen sich von zu Hause ablösen und müssen ihren Platz unter Gleichaltrigen finden, das kann psychisch ganz schön belasten.“ 40 von 100 Jugendlichen, so eine Studie von der Uniklinik in Erlangen, haben schon mal daran gedacht, sich umzubringen, und neun von 100 haben es versucht. Ihn habe die Grundaussage der Serie geärgert, sagt Plener. „Der Sozialarbeiter, an den sich Hannah in ihrer Not wendet, wird als total unfähig dargestellt. Kein Wunder, dass sich Jugendliche unverstanden fühlen. Der Selbstmord wird als einziger Ausweg gezeigt.“
Manchmal stimmt es, dass Lehrer, Schulpsychologen oder Sozialarbeiter nicht wüssten, wie sie einem suizidgefährdeten Jugendlichen helfen können. „Die Schulleitung muss trotzdem dafür sorgen, dass es mindestens einen Experten gibt.“ Als Jugendlicher in so einer Situation traut man sich oft nicht, sich jemandem anzuvertrauen. „Als Mitschüler, Freund, Vater oder Mutter sagt man dann am besten, man mache sich große Sorgen und bietet an, den Betroffenen zum Fachmann zu begleiten“, rät Plener. Die Filmemacher müssten viel mehr in die Pflicht genommen werden, sagt Niederkrotenthaler, denn die Unterhaltungsindustrie könne eine wichtige Rolle bei der Prävention spielen.
Das wird „Papageno-Effekt“ genannt: Als sich der Vogelfänger in der berühmten Oper aus Liebeskummer umbringen will, halten ihn die drei Knaben durch Hinweise davon ab. „Suizid zu thematisieren ist gut, aber man sollte Hilfsmöglichkeiten zeigen und wie jemand aus einer vermeintlich ausweglosen Situation herausgekommmen ist“, sagt Niederkrotenthaler. „Filme können ein Rettungsanker sein.“
Hilfe bei Suizidgedanken
Wenn Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie – auch anonym – mit anderen Menschen über Ihre Gedanken sprechen können.
Das geht telefonisch, im Chat, per Mail oder persönlich.
Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222.
Der Anruf bei der Telefonseelsorge ist nicht nur kostenfrei, er taucht auch nicht auf der Telefonrechnung auf, ebenso nicht im Einzelverbindungsnachweis.
Ebenfalls von der Telefonseelsorge kommt das Angebot eines Hilfe-Chats. Die Anmeldung erfolgt auf der Website der Telefonseelsorge. Den Chatraum kann man auch ohne vereinbarten Termin betreten. Sollte kein Berater frei sein, klappt es in jedem Fall mit einem gebuchten Termin.
Das dritte Angebot der Telefonseelsorge ist die Möglichkeit der E-Mail-Beratung. Auf der Seite der Telefonseelsorge melden Sie sich an und können Ihre Nachrichten schreiben und Antworten der Berater lesen. So taucht der E-Mail-Verkehr nicht in Ihren normalen Postfächern auf.