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Soziales Verhalten im Netz : Man muss ja keine Konsequenzen fürchten

  • -Aktualisiert am

Wer online anonym bleibt, entzieht sich der sozialen Kontrolle, die auf Plattformen zu Facebook oft zur Mäßigung führt. Bild: Imago

In Teilen des Internets herrscht soziale Kontrolle. Wer bei Facebook postet, hat theoretisch die ganze Welt als Publikum. Umso disziplinloser geht es in der Anonymität zu.

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          Das Internet wird häufig als neues, sozial inklusives Massenmedium beschrieben. Entsprechend fragt man nach Konsequenzen für unser Verständnis von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung. Diese Frage ist mehr als verständlich. Offenbar trägt das Netz dazu bei, sowohl die politisch korrekten als auch die politisch abweichenden Meinungen zu verstärken. Es führt zu neuartigen Sensibilitäten für Ungleichheit, begünstigt aber auch Borniertheiten.

          Die Nutzung des Netzes für scheinbar private Zwecke fällt bei dieser Perspektive zunächst unter den Tisch: In welchem Sinne die Verbreitung von Katzenvideos und Urlaubsfotos zur öffentlichen Meinung beitragen könnte, das ist nicht auf Anhieb ersichtlich. Das liegt aber vielleicht nur daran, dass man bei Öffentlichkeit immer sogleich an die gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit denkt, so wie sie von den klassischen Massenmedien repräsentiert wird.

          Sucht man nach einem breiter verwendbaren Begriff, der zum Beispiel auch auf die Öffentlichkeit großer Familienfeste passt, dann bedeutet Öffentlichkeit einfach, dass eine ansonsten bestehende Differenzierung nach Partnern und Publikumskreisen vorübergehend zusammenbricht. In kleinen und homogen zusammengesetzten Gesprächen kann man sich der jeweils dominierenden Gruppe anpassen.

          Facebook als großes Familienfest

          Vor laufenden Fernsehkameras, aber auch vor einem großen und inhomogenen Publikum von Anwesenden besteht diese Möglichkeit nicht. Auf dem Hochzeitsfest kann man sich nicht nur an die Eltern oder nur die Schwiegereltern wenden, nicht nur an die Verwandten oder nur an die persönlichen Freunde. Also orientiert man sich entweder an allgemeinen Gesichtspunkten, zu denen man vor all diesen Partnern stehen kann – was übrigens durchaus auf Trivialitäten hinauslaufen kann. Oder man ergreift offen Partei und muss dann auch zu offenen Konflikten bereit sein. Öffentlich ist das Familienfest also nicht, weil es Presseaufmerksamkeit fände, wohl aber deshalb, weil man dort über die Kleingruppensolidaritäten innerhalb der Großgruppe hinausgehen muss.

          Nach einer unlängst erschienenen Untersuchung, in der die kanadische Soziologin Abigail Curlew der Geschichte von Yik Yak, einer Internetplattform für anonyme Kommunikation, nacherzählt, muss man sich die Nutzer von Facebook oder Instagram wie Gäste solchen Familienfests vorstellen. Der Umstand, dass alles von allen und mit allen geteilt werden kann, führe zu einer Verschmelzung der Bezugsgruppen.

          Man könne sich nicht mehr nur an bestimmte Kategorien von Partnern wenden, also zum Beispiel nur mit den jeweils Gleichgeschlechtlichen kommunizieren, ohne sich auch die jeweils anderen „Freunde“ als stumme Zuhörer vorzustellen. Und die verbreitete Furcht davor, der geneigte Arbeitgeber könne per Internetrecherche auf Fotos von Saufgelagen stoßen und dadurch umgestimmt werden, zeige an, dass diese Rücksicht sich auch auf Unbekannte erstrecken muss. Völlig zu Recht sieht Curlew in dieser Art der Netznutzung, die zur Ausdrucksvorsicht erzieht, ein starkes Instrument sozialer Kontrolle.

          Maßlos in der Anonymität

          Für den Ausdruck politischer Meinungen könnte das bedeuten, dass die mit Sicherheit ungefährlichen, da politisch korrekten Positionen begünstigt werden, auch wenn darin nur wenig Chancen liegen, sich persönlich hervorzutun. Immerhin kann man das Richtige schneller und lauter aussprechen als andere und damit einen Ruf als Initiator von Empörungswellen erwerben.

          Gegen diese Art der sozialen Kontrolle profilieren sich Seiten wie 4Chan oder eben auch das ungleich harmlosere Yik Yak, die es ihren Nutzern gestatten, völlig anonym zu kommunizieren, und zwar mit Beiträgen, von denen zugleich sicher ist, dass sie alsbald wieder gelöscht werden. Zu keiner Meinung, die man hier abliefert, muss man wirklich stehen – nicht einmal vor den anderen Nutzern. Damit fehlt das Motiv, sich entweder zu mäßigen oder die Konsequenzen des anstößigen Scherzes, der gewagten politischen Meinung, des offenen Tabubruchs auf sich zu nehmen.

          Das Netz beschert insofern beides: mehr rollenübergreifende Rücksicht und mehr Gelegenheit zu einem Verhalten, das sich nicht mehr an Generalisierungen orientiert, das nicht als Selbstdarstellung dient, das zwar ein riesiges Publikum erreicht, aber niemanden auf seine extremen Positionen festlegt oder den Bereich der Kundgaben, die ihm sonst noch möglich sind, irgendwie einschränkt. Die Entdifferenzierung der Zuschauerkreise erzieht zur Mäßigung oder zum Konsequentsein. Bei garantierter Anonymität darf man dagegen maßlos sein, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Die garantierte Folgenlosigkeit anonymer Engagements gibt ihnen einen Zug ins Spielerische und Unernste, der es schwermacht, ihre reale Bedeutung einzuschätzen. Man kann sie leicht überschätzen. Man kann sie leicht unterschätzen. Und vielleicht ist sogar beides zugleich der Fall.

          Abigail E. Curlew, Undisciplined Performativity: A Sociological Approach to Anonymity, frei im Internet zugänglich unter: https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/2056305119829843.

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