Mythos der Impfskepsis : Die Kritik der Romantik
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„Sapere aude“: Die scheinbaren Romantiker verstehen sich als Aufklärer. Berliner Demonstration an Goethes Geburtstag 2021 Bild: dpa
Etliche Wissenschaftler wurden von Zeitungen zu der Frage einvernommen, ob die Romantik erklärt, dass es so viele Impfskeptiker in Deutschland gibt. Was steckt hinter dieser Debatte?
Es wird wohl nicht mehr ganz zu klären sein, wer die Debatte darum, ob die Romantik schuld an der deutschen Impfskepsis ist, angestoßen hat. War es, wie der „Tagesspiegel“ vermeldet, ein Artikel von Nils Minkmar in der „Süddeutschen Zeitung“, der den rätselhaften Impf-Unwillen in deutschsprachigen Ländern auf „die zutiefst antimoderne Tiefenschicht der deutschen Seele“ zurückführte? Oder war es, wie die „NZZ am Sonntag“ vermutet, ein Tweet des „Spiegel“-Journalisten Mathieu von Rohr, der am 11. November 2021 verkündete: „Spätfolgen der Deutschen Romantik: Anthroposophie, Homöopathie, Impfgegnertum“? In jedem Fall ist seitdem die Debatte in der Welt, ob die kulturgeschichtliche Konstellation der Romantik für das Anwachsen eines Milieus irrationalistischer Protestierer verantwortlich gemacht werden kann.
In der „Zeit“ wurde das in einem modischen Pro-Contra-Spiel auf die Person des Dichters Novalis zugespitzt, mit Zwischenüberschriften wie: „Aber ja, er ist schuld!“ und „Um Himmels willen, nein!“ Man kann davon ausgehen, dass hier bereits der leise Unernst mitinszeniert werden sollte, der durch diese Debatte weht. Andere Feuilletons allerdings waren der Frage, ob von der Sehnsucht nach der blauen Blume ein direkter Weg zum Querdenkertum führt, mit großer Ernsthaftigkeit nachgegangen. Der „Tagesspiegel“ befragte den Politologen Herfried Münkler und den Historiker Volker Reinhardt. Die „taz“ tat sich mit der Schweizer WOZ und dem österreichischen „Falter“ zusammen, um durch Konsultation etlicher Fachleute für Geschichte der Esoterik zu klären, „ob die Impfskepsis eine Folge der deutschen Geistesgeschichte ist“. Schließlich musste der Romantik-Experte Stefan Matuschek in der „Zeit“ klarstellen, dass die Romantik zu einem „nationalpathologischen Popanz“ aufgebaut werde.
Nationalcharakterkunde ersetzt politische Analyse
Es lohnt sich an dieser Stelle vielleicht, einen Schritt zurückzutreten und sich die Frage zu stellen, welche Funktionen diese Form der Aktualisierung hat. Denn die Vorstellung, dass eine typisch deutsche Verbundenheit zur Romantik, zur Fetischisierung von Natur, zur irrationalen Schwärmerei existiert, hat auch etwas Eitles, weil es teilweise ziemlich erbärmliche Probleme mit dem edlen Grusel einer tiefgründigen kulturgeschichtlichen Tradition auflädt. So lässt sich die politische Analyse durch den raunenden Verweis auf einen tief verwurzelten und irgendwie auch ästhetischen Nationalcharakter ersetzen.
Vor allem aber folgt diese Art der Aktualisierung einer aufmerksamkeitsökonomischen Logik des Feuilletons und der Literaturwissenschaft, die ihre historischen Gegenstände immer wieder in zeitgenössische Debatten einzuschreiben versucht. Das wirkt im Kontext eines oft diagnostizierten Relevanzverlustes ziemlich panisch. Man möchte zeigen, dass man auch etwas beizutragen hat zu den großen Fragen der Gegenwart. Mit der Behauptung, die Romantik sei schuld an der hohen Quote deutscher Impfgegner, wird das leicht angestaubte kulturgeschichtliche Erbe mit dem Glamour einer bis in die Gegenwart relevanten Tradition aufgeladen. Der unmittelbare Erkenntnisgewinn für die Gegenwart selbst bleibt dagegen fragwürdig. Im Hin und Her der feuilletonistischen Debatte erhält sich indes der Verdacht, es müsse sich um etwas wirklich Wichtiges handeln – würde man sonst darüber streiten?
Dieses Insistieren auf der Gegenwärtigkeit kanonisierter Kulturbestände tut den Autoren oder Werken, die dafür herhalten müssen, die Relevanz des eigenen Metiers zu belegen, oft gar nicht gut. So erfolgt die ritualisierte Beteuerung der „erstaunlichen Modernität“ kanonischer Werke erstaunlicherweise meist genau dann, wenn ein Autor gerade ein Jubiläum feiert. Und den Gegenstand, dessen deutende Kraft man unter Beweis stellen wollte, zieht man auf die Ebene einer Gegenwartsdiagnose in Gemeinplätzen herunter. 2018 etwa veröffentlichte der berühmte Shakespeare-Forscher Stephen Greenblatt ein kurzes Buch mit dem Titel „Tyrant – Shakespeare on Politics“, einen Angriff auf Donald Trump, der ausgesprochen transparent mit den Tyrannenfiguren in den Dramen gleichgesetzt wurde. So heißt es über den Aufrührer Jack Cade: „He promises to make England great again.“ Das war, gerade für einen Leser, der für seine Subtilität bekannt ist, eine erstaunlich magere Ausbeute.
Das Beispiel zeigt, wie Aktualisierung schiefgehen kann, wenn man sie zu erzwingen versucht. Aktualität gewinnen Feuilleton und Geisteswissenschaften, wenn sie, statt ihre Gegenstände in gegenwärtige Debatten zu drängen, tatsächlich die Gegenwart beobachten. Hätte sich etwa unter den „Querdenkern“ ein Novalis-Kult ausgebreitet, mit blauen Blumen am Parka, dann hätte die Berufung auf das Erbe der Romantik eine ganz andere Energie besessen. Das Fortleben von kulturgeschichtlichen Traditionen lässt sich vor allem in der Analyse konkreter Praktiken beobachten, nicht mit dem Verweis auf einen vagen Nationalcharakter.