Lücken beim Datenschutz : Das Netz weiß es trotzdem noch
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Dieses Bild ist hoffentlich nur gestellt. Sonst könnte dieser junge Mann, der an Silvester vermutlich zu tief ins Sektglas geschaut hat, später Probleme bekommen, Bundeskanzler zu werden. Oder auch nur Jugendtrainer. Foto Plainpicture Bild: plainpicture/Thomas Marek
Ob peinliche Schnappschüsse, längst widerlegte Verleumdungen oder Berichte über abgebüßte Missetaten. Das Internet sollte dergleichen irgendwann vergessen. Aber kann es das?
Kürzlich half das Bundesverfassungsgericht einem Mörder. Natürlich nicht bei der Tat, aber potentiell beim Leben mit deren Folgen. Der Mann hatte am 13. Dezember 1981 an Bord einer Yacht zwei Menschen erschossen. Er wurde verurteilt, kam ins Gefängnis. Im Oktober 1984 brach er aus und wurde zwei Tage später wieder gefasst. Jetzt will er wieder verschwinden. Nicht aus dem Gefängnis – 2002 hat er seine Strafe abgesessen –, sondern aus unserem Gedächtnis.
Anfang der Achtziger hatte der Spiegel ausführlich über den Fall berichtet. Drei Artikel sind samt dem Namen des Täters heute über das Online-Archiv des Magazins abrufbar. Mehr noch: Sie lassen sich mit Suchmaschinen finden. Wer den Namen des Mannes bei Google eingibt, bekommt die Berichte über seine Tat ganz oben präsentiert. Er wollte dem Magazin diese Namensnennung 2009 gerichtlich untersagen, hatte er seine Strafe doch abgesessen. Er scheiterte jedoch vor dem Bundesgerichtshof (BGH). Für die Richter hatte hier das Informationsinteresse der Öffentlichkeit Vorrang vor dem Schutz der Persönlichkeit des Mannes. Der legte Beschwerde vor dem Verfassungsgericht ein, das nun zu seinen Gunsten entschied: Bei der Abwägung der Grundrechte müsse man berücksichtigen, dass der verstrichenen Zeit besonderes Gewicht zukomme. Nun wird sich der BGH abermals mit der Sache befassen und prüfen, ob die Zeit in diesem konkreten Fall das öffentliche Interesse an dem Mord soweit verringert hat, dass das Internet den Mann vergessen sollte. Bis dahin bleiben die Artikel im Netz.
Der österreichische Jurist Viktor Mayer-Schönberger vom Oxford Internet Institute lobt, dass die Verfassungsrichter den zeitlichen Aspekt hervorgehoben haben. „Wenn wir technische Werkzeuge verwenden, die das menschliche Vergessen unmöglich machen“, sagt er, „dann müssen wir auf anderem Weg ein bisschen diese Erinnerungen entwerten.“
Juristische Mechanismen des Vergessens
Dem Problem hat Mayer-Schönberger schon vor zehn Jahren sein Buch „Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten“ gewidmet. Wie er dort erklärt, war Vergessen historisch die Norm. Erinnern war die Ausnahme. Durch Festplatten oder Cloud-Server lassen sich jedoch Informationen mit geringem Aufwand dauerhaft speichern und vor allem abrufen. So wurde das Vergessen die Ausnahme. Das hat Vorteile, in Mayer-Schönbergers Augen aber auch Nachteile. Zum einen sei das Vergessen ein Mechanismus, mit dem wir lange zurückliegende Dinge entwerten. Der Einzelne kann dadurch Wichtiges von Belanglosem trennen. Es gibt aber auch ein ethisches Problem: Eine Gesellschaft, in der ein Mensch eine zweite Chance bekommen soll, muss auch vergessen können.
Unsere Gesellschaft besitzt daher juristische Mechanismen des Vergessens: So werden Einträge in Strafregistern nach einiger Zeit getilgt. Und technisch bedingt passierte bis vor drei Jahrzehnten praktisch das Gleiche auch mit Medienberichten über Kriminalfälle. Man musste sich schon aktiv durch Zeitungsarchive wühlen, um jemands Vergangenheit noch mal aufzuwärmen. Heute aber kann es sein, dass man zufällig über einen uralten, kompromittierenden Bericht stolpert, wenn man einen Namen bei Google eingibt. Das ist schlecht für jeden, der sich zum Beispiel um einen Job bemüht, aber vor Jahren mal aus unerfreulichen Gründen in der Öffentlichkeit stand. Potentielle Arbeitgeber werden von Google auf die Episode hingewiesen, und die Betroffenen haben keine Chance, ihrer Vergangenheit zu entkommen. Darum setzten die ersten Versuche der Rechtspfleger, die dem Internet das Vergessen lehren sollen, bei den Suchmaschinen an.