Hegel und Lauterbach : Kein Einzelner kann frei sein
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Eine Frage der Vernunft? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und die Impflicht-Debatte im Deutschen Bundestag Bild: Reuters
Karl Lauterbach hat in der Bundestagsdebatte am 24. Januar die Impfpflicht mit dem Philosophen Hegel begründet. Ist das Zitat korrekt – und stimmt die Deutung des Ministers?
Die Pandemie hat uns an die Verwendung philosophischen Vokabulars in der Tagespolitik gewöhnt. Aus Immanuel Kants kategorischem wurde der virologische Imperativ. Der neue Bundesgesundheitsminister hat nun den berühmten Schritt von Kant zu Hegel gewagt, also den Gang des deutschen Idealismus komplettiert, indem er den letzteren in der Bundestagsdebatte zur Impfpflicht am 24. Januar mit dem Satz zitierte, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit.
Ist dieser Satz aber überhaupt belegbar? Jörg Phil Friedrich stellte in der Tageszeitung „Die Welt“ die These auf, der Minister habe „das falsche Hegelzitat“ verwendet. Damit steht die Genauigkeit in der Anwendung wissenschaftlicher Lehren auf die Politik infrage, für die Lauterbach als Gesundheitsökonom und Epidemiologe steht wie sonst nur Greta Thunberg und Christian Drosten.
In der Tat ist der Satz so, wie Lauterbach ihn zum Besten gegeben hat, nicht bei Hegel, sondern bei Friedrich Engels zu finden. Dieser hat in seinem „Anti-Dühring“ über die Beziehung des Menschen zur Natur nachgedacht: Die uns umgebende Welt sei durchherrscht von Kausalität, der auch wir uns als Erdenwesen zu unterwerfen hätten. Springen wir zum Beispiel vom Boden ab, werden wir nach einer kurzen Zeit wieder auf ihm landen – die Schwerkraft lässt sich nicht aushebeln. Sie ist also notwendig und schränkt unsere Willkür insofern ein, es sei denn, uns gelingt es, andere Naturgesetze gegen sie zu mobilisieren. Schaffen wir es etwa, mithilfe der Strömungsmechanik ein Flugzeug zu konstruieren, das sich der Erdanziehungskraft temporär durch einen Auftrieb entzieht, haben wir den Naturzwang durch Anwendung unseres Wissens gebrochen.
So kam Engels zu seinem Satz. Ihm ging es darum, dass sich die Menschheit im Laufe der Geschichte durch die Natur von der Natur befreit hat: „Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung.“ Ohne jeden Zweifel ist dies eine Variation der Position Hegels, dessen Philosophie teleologisch ist, also von zielgerichteten Prozessen handelt, was in der Geschichte zu einem Entwicklungsimperativ wird: Der Mensch muss sich, wie Engels es beschrieben hat, aus den Zwängen der Natur herauskämpfen, sich zum Geist entwickeln und auch diesen letztlich emanzipieren.
Freiheit ist mehr als Willkürfreiheit
Engels mag sich also im Wortlaut vergriffen haben, den Geist des Hegelschen Gedankens traf er ziemlich genau, weshalb es nicht ganz korrekt ist, wenn Friedrich nun behauptet: „Hegel hat das nie gesagt und auch nicht gemeint.“ Sogar auf das Hauptwerk, die „Wissenschaft der Logik“, könnte sich berufen, wer die Hegelinterpretation von Engels verteidigen wollte, dort ist, wo die Kategorie der Notwendigkeit entwickelt wird, explizit auch von Freiheit die Rede.
Und Lauterbach? Ihm geht es selbstverständlich nicht um die Befreiung des Menschen, sondern darum, dem Impfgegner zu begegnen, der sich auf seine persönliche Freiheit beruft, wo er die Verfügungsgewalt des Staates über seinen Körper ablehnt. Ihm antwortet Lauterbach: Freiheit ist mehr als Willkürfreiheit, es gehört auch Einsicht dazu! Wer frei sein will, kann sich nicht auf seinen Willen allein berufen, es muss ein substantieller Gedanke hinzukommen. Auch diese Überlegung steht im Einklang mit Hegels Philosophie, für den Freiheit an Wahrheit gekoppelt ist, also über das bloß Persönliche der Meinung hinausgeht: Ein Einzelner kann demzufolge nicht frei sein.
So ist es zwar ist richtig, Hegel als einen „Philosophen der Freiheit“ (Klaus Vieweg) zu reklamieren, wie nun auch in der „Welt“ geschehen, dabei ist aber an etwas Objektives und Kollektives zu denken, nie an die bloße Freiheit des Einzelwillens. Gleich der Beginn der „Rechtsphilosophie“ stellt dies klar: „Wenn man sagen hört, die Freiheit überhaupt sei dies, daß man tun könne, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freie Wille, Recht, Sittlichkeit usf. ist, noch keine Ahnung findet.“ Die Frage nach dem entweder solidarischen oder individualistischen Verständnis von Freiheit, die gerade die Gemüter bewegt, hat Hegel für seine Philosophie eindeutig beantwortet. Eine Gesinnungsethik ist mit ihm nicht zu machen.
Hegel und die Pocken-Impfung
Wie das gemeint ist, lässt sich an der Impfpflicht gut vorführen. Denn tatsächlich kam Hegel in seinen Vorlesungen mindestens einmal, im Wintersemester 1824/25, auf epidemiologische Problemlagen zu sprechen. Wir wissen das aus den Mitschriften von Gustav Julius von Griesheim: „Die Frage ist, hat die bürgerliche Gesellschaft das Recht die Aelteren gesetzlich anzuhalten den Kindern die Pocken zu impfen. Dies ist in Baiern der Fall. Die Aelteren werden leicht unwillig über eine solche Verordnung, weil sie sagen, wir werden das schon aus eigenem Herzen thun, man braucht es uns nicht zu befehlen. Befehle werden auf diese Weise oft übel genommen, wie z. B. bei den Armensteuern, wo jeder den Beitrag seiner eigenen Mildthätigkeit anheim gestellt lassen sein will. Allein ist dieß ein unrichtiges Verhältnis in das das Individuum sich zu den Gesetzen stellt.“
Neben der eindeutigen Absage an den Individualismus ist bemerkenswert, dass Hegel, wie heutige Befürworter der Impfpflicht, bei der Pockenimpfung eine Parallele zu anderen politischen Verpflichtungen zieht. Darin steckt eine soziale Romantik: Menschen geben in der Gesellschaft zum Wohl aller etwas von ihrer Freiheit ab – freiwillig schränken sie sich füreinander ein. Man kann das aber auch zynisch lesen: Da wir ohnehin schon zum Steuerzahlen gezwungen sind und unsere Kinder in die Schule schicken – warum sich über die Impfung aufregen? Die bürgerliche Gesellschaft ist eben eine soziale Formation, in welcher der Zwang herrscht. Auf eine weitere Gängelung kommt es gar nicht an.
Hegel verbindet als Dialektiker beide Dimensionen. Sein komplexer Freiheitsbegriff meint äußeren Zwang ebenso, wie er den letzteren auf die subjektive Entscheidung zurückbezieht. Die Menschen sollen gezwungen werden, aber diesen Zwang zugleich selbst wählen: „Die vortrefflichsten Gesetze sind die, die das befehlen, was die Menschen von sich selbst thun, dies ist der eigentlichste, wahre Sinn der Gesetze daß nichts vorgeschrieben ist, als was der eigene Verstand, die Vernunft des Menschen thut, eine Regulierung tritt dann nur bei einem Quantum ein.“ Das Quantum wären heutige Impfgegner. Sie empfinden das Gebotene nicht, das sich von selbst anzeigt und dennoch von staatlicher Seite gesetzt werden muss.
Eine Frage der Vernunft
In diesem Sinn vergleicht Hegel die Impfung mit dem Verbot zu stehlen, das gerade deshalb absolut gilt, weil es selbstverständlich ist: „Das Gesetz hindert nicht, daß das was gesetzlich ist von den Menschen von selbst gethan werden, die Menschen stehlen nicht, nicht weil es verboten ist, sondern sie unterlassen es von selbst. Der Befehl daß die Pocken bis in einem gewissen Alter den Kindern geimpft werden sollen, ist nicht wirkend für die die es von selbst thun, nur auf die Nachlässigen, die es nicht von selbst thun, wirkt das Gesetz äußerlich, die Anderen sind in einem ganz freien Verhältniß.“ Man sieht wohl, wie Hegel sich den Idealstaat vorstellt: Die Vernunft gibt den Befehl, den der Vernünftige von selbst anstrebt, sodass er als äußere Anordnung auch aufgehoben ist.
Das ist mit Sicherheit problematisch. Die Frage ist nur, für wen. Genau genommen steckt in Hegels Vernunftemphase die Allgewalt des Staates ebenso wie dessen Zerstörung: In einer vernünftigen Gesellschaft müsste jeder administrative Zwang überflüssig werden, weil die aufgeklärten Menschen nicht von anderen zu ihrem Glück gebracht werden. Darin steckt ein ganz anderes Verständnis von Notwendigkeit als das heute gebräuchliche – in diesem Punkt zumindest hat Jörg Phil Friedrich recht. Nur dass es seine Position weiter unterminiert. Eine Analyse des Begriffs erhellt, dass in ihm eine Not (ab)gewendet wird. Der Notwendigkeit wohnt ein Solidaritätsgebot inne: Philosophisch zwingend ist, jede materielle Not abzuwenden, welche die bürgerliche Gesellschaft produziert.
Der Stachel der Vernunft richtet sich aus diesem Grund aber nicht allein gegen die willkürfreien Impfskeptiker. Auch die Position ihrer Gegner kann infrage gestellt werden. Es ist nicht konsequent, plötzlich Solidarität einzufordern, diese aber auf die Pandemiebekämpfung zu beschränken. Hier müsste grundsätzlicher über die Aporien der bürgerlichen Gesellschaft nachgedacht werden. Die Kritische Theorie, die in Hegels Tradition stand, hat deshalb verlangt, den löblichen sozialen Impuls auch zur „bewußten Solidarität des Ganzen“ (Max Horkheimer) zu entwickeln. Insofern ist Karl Lauterbach ein Geniestreich gelungen: Sein richtiges Verständnis eines falschen Zitats hat unfreiwillig auch Friedrich Engels aufs Tapet gebracht. Hegel nannte solche Zufälle, die notwendig sind, Listen der Vernunft.