Poetik und Rhetorik : Antike Ästhetik und die moderne Identitätspolitik
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Man sieht das rauh Geschlecht vom rauhen Vater am Kind! Andrea Wenzl spielte die Antigone des Sophokles 2011 im Wiener Volkstheater. Bild: Lilli Strauss/dapd
Wann ist Aneignung erlaubt, welche Folgen hat Verkörperung? Eine unzeitgemäße Betrachtung der zeitgenössischen Identitätspolitik durch das Prisma der Antike.
Wer darf über wen schreiben, wer wen darstellen? Aus der Kritik an rassistischen Praktiken wie dem Blackfacing ist ein striktes identitätspolitisches Überwachungsregime erwachsen. Jeanine Cummings wurde heftig dafür kritisiert, dass sie in ihrem Erfolgsroman „American Dirt“ (2020) die Geschichte einer illegalen Immigrantin aus Mexiko erzählt, obwohl sie keine Latina ist. Nach Todesdrohungen sagte sie eine Lesetour ab. Die weiße Theologin Jennifer M. Buck untersuchte den Trap-Feminismus, eine Spielart des „black feminism“ – auf massiven Druck zog der Verlag das Buch zurück. Tom Hanks hat die identitätspolitischen Richtlinien internalisiert und erklärte, er würde heute den Anwalt in „Philadelphia“ nicht mehr spielen: Heterosexuelle sollten keine Homosexuellen mehr darstellen.
Es lohnt sich, diese Entwicklung vor dem Hintergrund der Antike zu betrachten. So ging man bereits im griechisch-römischen Altertum von einer engen Beziehung zwischen Autoren und Figuren, Schauspielern und Rollen aus. Zwar verkündete Catull: „Denn keusch sein muss der fromme Dichter selbst, keineswegs jedoch seine Verslein.“ Doch allgemein identifizierte man umstandslos das dichterische Ich mit dem Autor: Der archaische Dichter Archilochos galt als Sohn einer Sklavin, wollüstiger Ehebrecher und Feigling, der den Schild auf dem Schlachtfeld zurückließ, weil seine Gedichte von solchen Erlebnissen handeln. Der Begriff „persona“ ist lateinischen Ursprungs, aber eine Persona-Theorie, die den Autor vom erzählenden Ich kategorial trennt, gab es in der Antike nicht.
Enge Beziehung zwischen Autor und Figur
Die Identifikation war keineswegs auf das dichterische Ich beschränkt. Lernen heute schon Schüler, dass die Figuren in Dialogen nicht ohne weiteres als Sprachrohr des Autors verstanden werden dürfen, so trägt der römische Redelehrer Quintilian keine Bedenken, in Sokrates Platon zu hören. Ohne zu zögern, schreiben antike Grammatiker die Äußerungen von Ödipus und Antigone Sophokles zu. Satirisch gewendet wird die enge Beziehung zwischen Autor und Figur in der Komödie: In den Acharnern des Aristophanes tritt Euripides als träge und in Lumpen gehüllte Gestalt auf - ganz wie die Figuren in seinen Tragödien, bemerkt der Bauer Dikaiopolis.
In die Nähe gegenwärtiger Diskussionen bringt uns eine andere Komödie des Aristophanes, die Thesmophoriazusen: Beim Auftritt des Tragödiendichters Agathon fragt sich eine Figur, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handle: Der junge Mensch trägt ein Safrankleid mit Busenband, hat aber keine Brüste und hält neben dem Spiegel auch ein Schwert. Agathon verteidigt seinen Aufzug damit, er müsse, wenn er Frauendramen schreibe, auch „körperlich daran beteiligt“‘ sein. Denn grundsätzlich gelte: „Notwendigerweise schafft man der eigenen Natur Gleiches.“ Man darf den komischen Charakter dieser Szene nicht vergessen, in der Aristophanes die Athener auf Kosten eines für seine Androgynität und Effeminiertheit bekannten Dichterkollegen unterhält. Trotzdem verdichtet sich in ihr die enge Anbindung von Figuren an ihre Autoren, die sich durch die gesamte Antike zieht und hier in ihrem Fokus auf Geschlechtlichkeit an gegenwärtige Diskussionen erinnert.
Keine Darstellungsverbote in der Antike
Zugleich sticht ein grundlegender Unterschied zwischen dem antiken Verständnis und dem Regime der Identitätspolitik ins Auge: Die Identität eines Autors wird nicht ins Feld geführt, um ihm die Auseinandersetzung mit bestimmten Figuren und Themen zu untersagen. Sie dient vielmehr dazu, die Vorlieben eines Autors für Figurentypen durch dessen Charakter zu erklären, oder aber man liest umgekehrt diesen Charakter aus dem Verhalten der Figuren ab – in den Fröschen des Aristophanes tritt dem gerissenen Euripides der schwerfällig-heroische Aischylos entgegen, der sich wie seine Figur Achill in Schweigen hüllt, bevor er in bombastischen Versen spricht. Die Antike teilt mit der Identitätspolitik die enge Anbindung von Autor und Figur, leitet daraus aber keine Darstellungsverbote ab.