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Alternative Fakten : Flüchtlingskrise — welche Flüchtlingskrise?

  • -Aktualisiert am

Silvester 2016 am Eisernen Steg in Frankfurt. Es herrschten verstärkte Sicherheitsmaßnahmen, nachdem es im Jahr zuvor in Köln zu Vorfällen gekommen war, die nicht wenige mit der Flüchtlingswelle 2015 in Verbindung bringen. Bild: Rainer Wohlfahrt

Eine neue Publikation in der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift „Soziale Welt“ will herausgefunden haben, dass es gar keine Flüchtlingskrise gegeben hat. Wie sind die Autoren zu dieser Schlussfolgerung gekommen?

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          Fünf Jahre nach der Öffnung der Grenzen im Sommer 2015 ist diese Frage nach den Folgen heftig umstritten. Eine eindeutige Antwort ist angesichts der Pluralität der öffentlichen Meinung zu diesem Thema nicht zu erwarten. Schon der Begriff selbst ist dafür viel zu unklar. Immerhin haben sich die Bedingungen der Möglichkeit, wissenschaftlich fundierte Antworten auf alle Aspekte der Zuwanderung zu bekommen, inzwischen erheblich verbessert. Primär der Wissensbedarf der Politik sorgt dafür, dass die postmigrantische Gesellschaft soziologisch intensiv erforscht wird.

          Dass man aber schon jetzt zu einer so entschiedenen Einschätzung kommen kann, es habe überhaupt keine Flüchtlingskrise gegeben, überrascht dann doch. Herbert Brücker, Yuliya Kosyakova und Ehsan Vallizadeh haben jetzt mit einer Veröffentlichung in der „Sozialen Welt“ für diese Überraschung gesorgt. Die „empirische Evidenz“ habe „konträr zu vielfältig geäußerten Erwartungen“ keine Anzeichen für eine solche Krise gegeben. Das wird die politisch dafür Verantwortlichen freuen, aber wie gelangen die Autoren zu ihrer Überzeugung?

          Nur die Daten sind fundiert

          Was sie zunächst versprechen, ist eine fundiert empirische Beschreibung der soziodemographischen Eigenschaften der Flüchtlinge, die zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland gekommen sind. An der Fundierung lässt die Datenquelle, der IAB-BAMF-SOEP-Flüchtlingssurvey, keinen Zweifel. Das Problem der Publikation sind die Schlüsse, die sie aus ihren Daten zieht, der Optimismus, mit dem sie die problematischen Seiten ihrer Befunde beleuchtet, und der allgemein forsch-fröhliche Grundton, mit dem sie ihre Botschaft präsentiert: „Lektion gelernt“!

          Etwa die Daten zu den Sprachkenntnissen: Konstant äußern nahezu 100 Prozent der Befragten, vor ihrer Flucht über keinerlei Deutschkenntnisse verfügt zu haben. Doch schon nach zwei bis drei Jahren sinke dieser Anteil auf „nur“ noch 34 Prozent, während mehr als 60 Prozent über ausreichende bis sehr gute Deutschkenntnisse verfügten. Das Problem ist nur, dass diese Befunde auf einer Selbsteinschätzung der Befragten beruhen, gestützt lediglich durch eine ergänzende Beurteilung des Interviewers. Oder die Religionszugehörigkeit: Ja, über 80 Prozent der Flüchtlinge seien Muslime. Könnte das ein Problem sein für die deutsche Mehrheitsgesellschaft? Die Autoren äußern sich nicht dazu. Bildung? 2016 verfügten 38 Prozent der befragten Flüchtlinge über eine nur rudimentäre Schulbildung. Für die Autoren eine „Herausforderung“, aber auch eine Erleichterung, denn die meisten Flüchtlinge sind eher jung, also noch „beschulbar“. Was das für die damit belasteten Schulen bedeuten könnte – der Text stellt auch diese Frage nicht.

          Integration wohin?

          Ob aus einer „Flüchtlingswelle“ eine „Krise“ werde, hänge davon ab, ob die Institutionen des Aufnahmelands darauf vorbereitet seien, so die Autoren. Dass etwa die Asylverfahren anfänglich viel zu lange dauerten, dann aber relativ schnell zu Entscheidungen führten, wird von ihnen ebenfalls als Bestätigung ihrer These benutzt, es habe keine Krise gegeben. Vielmehr habe die Beschleunigung der Verfahren die „Integration“ der Geflüchteten am Ende gefördert. Aber Integration wohin? Etwa in den Arbeitsmarkt, in die Erwerbsgesellschaft? Dass die Autoren der Frage der Beschäftigungssituation der Flüchtlinge nicht einen Satz widmen, ist schon ein starkes Stück. Stattdessen preisen sie die Institutionen des deutschen Sozialstaats dafür, dass die Flüchtlinge größtenteils von ihnen „absorbiert“ worden seien. Dass die Zuwanderung also im Wesentlichen eine in die vorhandenen Angebote des Wohlfahrtstaats war, wird von den Autoren als Erfolg betrachtet und nicht etwa als ein Problem, dessen Ausmaße und langfristige Folgen durchaus in einem Kontext von Krisenhaftigkeit diskutiert werden könnten.

          Wie können die Autoren schließlich zu der Schlussfolgerung kommen, dass ihre Befunde „keinerlei Anzeichen bereitstellen, dass die jüngste Zuwanderung nach Deutschland größere ökonomische und soziale Unordnungen erzeugt hätten, die den Ausdruck Flüchtlingskrise rechtfertigen“? Vor allem durch Weglassungen. Das Thema Kriminalität und innere Sicherheit wird nicht einmal angeschnitten. Auch die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge fehlt, was die Autoren aber am Ende nicht davon abhält, selbst hier wieder von Fortschritt zu sprechen. Auch nach Einstellungen zu den Flüchtlingen in der Mehrheitsgesellschaft wird nicht gefragt. Probleme werden zu „Herausforderungen“ umgewidmet. Das ist der Jargon politischer Programme, aber keine wissenschaftliche Aussage. Der vielversprechende Titel entpuppt sich bei der Lektüre als eine Anmaßung, die durch die überschaubaren und völlig unspektakulären Befunde der Publikation in keiner Weise gedeckt wird. Der Text suggeriert Aufatmen und viel anerkennendes Schulterklopfen, wo er tatsächlich von andauernden Belastungen und krisenhaften Folgen berichtet. Man kann die deutsche Willkommenskultur politisch gutheißen, auch ohne die postmigrantische Gesellschaft wissenschaftlich schönzufärben.

          Herbert Brücker, Yuliya Kosyakova, Ehsan Vallizadeh: Has there been a „refugee crisis“?, in: Soziale Welt 71 (1-2), 2020, 24-53.

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