Experiment über Ehrlichkeit : Der Reiz der verlorenen Brieftaschen
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Wie ehrlich gehen Menschen mit so einem Fund um? Bild: dpa
Würden Sie die gefundene Geldbörse zurückgeben oder doch wenigstens einen Blick in das fremde Geldfach wagen? Eine Experiment zeigt: So eigensüchtig ist der Mensch gar nicht – aber Egoismus ist nicht sein einziges Laster.
Stanley Milgram hat die Sozialpsychologie durch ein mit seinem Namen verknüpftes Experiment bereichert. Dabei werden Versuchspersonen von fingierten Wissenschaftlern dazu animiert, im Dienste der Forschung anderen Menschen Stromstöße zu verabreichen. In einem anderen, etwas harmloseren Experiment untersuchte er die Hilfsbereitschaft gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, indem er an ausgewählten Plätzen der Stadt New Haven an der amerikanischen Ostküste scheinbar an bestimmte Gruppen adressierte Briefe liegenließ, die in Wirklichkeit in Postfächern landeten. Es zeigte sich, dass zum Beispiel ein Brief an eine medizinische Forschungseinrichtung öfter weitergeleitet wurde als einer an die „Freunde der Kommunistischen Partei“.
Mit Hilfe einer Abwandlung dieser „Lost Letter“-Methode hat ein internationales Forscherteam nun untersucht, wie es um die „zivile Ehrlichkeit“ in 40 Ländern bestellt ist. Sie verteilten in 355 Städten rund um die Welt 17.000 Brieftaschen, in denen sich teilweise nur Dokumente mit einer E-Mail-Adresse, teilweise auch Schlüssel und Geld befanden.
Mitarbeiter des Forschungsprojekts gaben diese in öffentlichen Gebäuden wie Banken, Theatern, Hotels und Polizeistationen als Fundsachen ab. Um sicherzustellen, dass die Versuchspersonen auch in Versuchung gerieten, waren die Brieftaschen durchsichtig, und die Forscher verzichteten explizit auf einen Einlieferungsbeleg. Die Personen, denen die Fundsache anvertraut wurde, konnten also entscheiden, den mutmaßlichen Eigentümer per E-Mail zu kontaktieren oder – ohne großes Risiko – entweder nichts zu tun oder den Inhalt an sich zu nehmen.
Unverhoffte Ehrlichkeit
Die experimentell erzeugte Spannung zwischen dem altruistischen Motiv der Hilfe und dem egoistischen der Bereicherung stellt das in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verbreitete Modell des „rationalen Egoisten“ oder „homo oeconomicus“ auf die Probe, demgemäß Handlungen nach dem subjektiven Nutzen gewählt werden. Für diese Theorie spricht, dass die gegensätzliche Annahme, Menschen handelten grundsätzlich im Interesse anderer und nicht im eigenen, offensichtlich zu anspruchsvoll und realitätsfremd wäre.
Es überrascht also nicht, dass nicht nur Wissenschaftler, sondern auch viele Laien glauben, dass Menschen eher egoistisch handeln. Das belegen zwei Umfragen, die das Forscherteam parallel zum Experiment durchführte: Über 70 Prozent der befragten Laien erwarteten, dass der Fund einer Brieftasche ohne Bargeld gemeldet würde; bei einer größeren Geldmenge gingen davon nur noch 55 Prozent aus. Unter den befragten Wirtschaftswissenschaftlern war die Verteilung ähnlich, allerdings zeigten sich diese überraschenderweise etwas optimistischer, dass auch ein großer Geldbetrag nicht zur Unterschlagung führen müsste.
Mit diesen Einschätzungen lagen jedoch beide Gruppen falsch. Die Vermutung, die Aussicht auf Bereicherung würde die Neigung, den Fund zu melden, verringern, wurde durch das Experiment eindrucksvoll widerlegt. Das Gegenteil war der Fall: Die fingierten Eigentümer der mit 13,45 Dollar in lokalen Kaufkraftäquivalenten bestückten Geldbörsen wurden im Durchschnitt häufiger über den Fund informiert als jene bargeldloser Brieftaschen.
Altruistische oder doch eher egoistische Rücksicht?
Ob sich überhaupt jemand meldete, variierte zwar stark von Land zu Land. Doch in beinahe allen Fällen erhöhten Geldbeträge die Wahrscheinlichkeit dafür. Der Einwand, der Betrag könnte zu geringfügig sein, um eine Versuchung darzustellen, wurde durch ein zusätzliches Experiment in ausgewählten Ländern entkräftet: Ein siebenmal so hoher Geldbetrag erhöhte die Wahrscheinlichkeit einer Meldung zusätzlich. Dabei kam es nur in wenigen Fällen zu kleineren Abzweigungen, und offenbar spielte auch die Aussicht auf einen substantiellen Finderlohn keine Rolle.
Diese Ergebnisse lassen sich nur schwer mit einem egoistischen Nutzenkalkül erklären. Deshalb ziehen die Autoren zwei weitere Aspekte in Betracht: zum einen altruistische Rücksicht auf den möglichen Schaden für den Eigentümer, zum anderen egoistische Rücksicht auf die eigene Selbstdarstellung, die durch einen Diebstahl beschädigt werden könnte. Für den Altruismus spricht, dass auch ein Schlüssel im Portemonnaie – der nur für den Eigentümer einen Wert hat – die Wahrscheinlichkeit einer Meldung erhöht. Für die Bedeutung der Selbstdarstellung spricht, dass die Unterschlagung einer gefundenen Brieftasche in Umfragen umso eindeutiger als „Diebstahl“ klassifiziert wird, je höher der dabei genannte Geldbetrag ist.
Die Autoren folgern, dass der symbolische Schaden, als Dieb dazustehen, für viele Versuchspersonen stärker ins Gewicht fällt als der materielle Gewinn. Eine andere Möglichkeit ziehen sie allerdings nicht in Betracht: dass ein Schlüssel oder ein hoher Geldbetrag ein Motiv liefern, überhaupt etwas zu unternehmen. Wenn Hilfe unterbleibt, liegt nicht zwangsläufig ein Diebstahl vor. Es kann sich auch schlicht um Faulheit handeln. Und diese ist – mehr noch als Egoismus – sicherlich eine Konstante menschlichen (Nicht-)Handelns.
Cohn, Alain; Maréchal, Michel André; Tannenbaum, David; Zünd, Christian Lukas (2019): Civic honesty around the globe. In: Science 365 (6448), S. 70-73. DOI: 10.1126/science.aau8712.