Verschollener Caravaggio : Ein großes Kunstwerk wird neu datiert
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Jacob Burckhardt nahm bei Caravaggio ein „scharfes Kellerlicht“ wahr und vermisste die „Mitwirkung der Tageshelle“. In der Bebilderung der Weihnachtserzählung ergibt dieser Verzicht schönsten heilsgeschichtlichen Sinn. Bild: Archiv
Caravaggios Hirtenanbetung wurde 1969 in Palermo geraubt und ist seitdem verschollen. Auch ohne Autopsie hat sich in der Forschung eine Umdatierung durchgesetzt. Ein bekannter Vertrag wurde neu gelesen.
Im April 2021 verbreitete sich rasch die Nachricht von der Entdeckung eines nur aus Kopien bekannten Gemäldes von Caravaggio. Noch ist ganz unklar, ob es sich bei der Darstellung eines Ecce Homo tatsächlich um ein Original handelt. Doch hat der Expertenstreit um die richtige Einordnung des Bildes in das Gesamtwerk des Malers längst begonnen. Die Auffassungen schwanken zwischen einer Entstehung in den letzten Monaten seiner römischen Schaffensphase, als er sich im Juni 1605 zur Ausführung einer solchen Darstellung verpflichtete, und einer späteren Datierung in die Zeit seines Aufenthalts in Neapel in die Jahre 1606 oder 1607, worauf frühe Sammlungsinventare hindeuten. Der zeitliche Unterschied von zwei Jahren ist hierbei natürlich weit weniger gravierend als die auch kulturelle Distanz Neapels zu Rom. Die materialtechnische Untersuchung des Bildes dürfte im Vergleich zu gesicherten Werken der jeweiligen Schaffensphase genaueren Aufschluss geben, und insofern erscheint der Abgleich mit verfügbaren Quellenzeugnissen als ein etwas voreiliges Ritual. Verschränken sich die Aussagen ehemaliger wie heutiger Autoritäten aber dauerhaft zu scheinbar untrüglicher Verlässlichkeit, entsteht gelegentlich ein Lehrstück über die kritische Prüfung scheinbar fest etablierter Auffassungen.
Ein in dieser Hinsicht wahrhaft erstaunliches Beispiel bietet Caravaggios monumentale Darstellung der Geburt Christi, die mehr als 350 Jahre über dem Altar des Oratoriums des heiligen Laurentius in Palermo aufgestellt war. In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1969 jedoch schnitten Diebe die fast drei Meter hohe Leinwand aus dem Rahmen und entkamen unerkannt. Bis heute ist das Gemälde verschollen. Entgegen früheren Annahmen, es sei gänzlich zerstört, kam eine staatliche Untersuchungskommission 2018 zu dem Ergebnis, das Bild sei in vier Teile zerschnitten worden und diese seien vielleicht noch erhalten. Somit besteht weiter Hoffnung, zumindest Fragmente der Hirtenanbetung könnten doch wieder zum Vorschein kommen.
Traditionell als Spätwerk betrachtet
Während die kriminalistische Aufklärung des Falls also noch aussteht, sieht sich die Fachwelt durch neuere Annahmen über die Entstehung des Gemäldes allseits verblüfft. Denn im Anschluss an die Aussagen von Caravaggios frühen Biographen Giovanni Baglione und Giovan Pietro Bellori galt es eigentlich als ausgemacht, die Hirtenanbetung in Palermo sei das letzte Gemälde gewesen, das Caravaggio am Ende seines mehrmonatigen Aufenthalts in Sizilien geschaffen hatte, kurz bevor er im Dezember 1609 nach Neapel aufbrach – in der Hoffnung, bald begnadigt zu werden und nach langem Exil wieder nach Rom zurückkehren zu können. Bekanntlich blieb ihm dies verwehrt; er verstarb schon im Mai 1610 mit erst 38 Jahren. Die Hirtenanbetung wäre also ein Werk aus seiner letzten Schaffensphase gewesen.