Ali Smith : Sandy, o Sandy, dein Herz darf fröhlich sein
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Man könnte sie fast für eine Doppelgängerin oder Zwillingsschwester ihrer Heldin Sandy halten: Ali Smith 2015 beim Edinburgh International Book Festival. Bild: Picture Alliance
Vom Wiederfinden der Gemeinschaft in der Intertextualität: Im Roman „Companion Piece“ von Ali Smith ergänzen sich die Literatur und das Leben perfekt.
Wenn in einem Roman ein Gedicht analysiert wird, ist mit dem Hintersinn poetologischer Selbstbezüglichkeit zu rechnen. Ali Smith lässt in ihrem neuen Buch ihre Ich-Erzählerin Sandy ein Gedicht des amerikanischen Dichters E. E. Cummings interpretieren. Mit Leichtigkeit und Witz lenkt Smith ihr Publikum durch das Gedicht des klassischen Avantgardisten. Es lohne sich nicht, Lyrik zu hassen – „Waste of a strong emotion“ –; vielmehr solle man sich auf die Worte einlassen: „Just look at the words. They’ll tell you what they mean. Because that’s what words do . . . They mean.“ Seit April letzten Jahres liegt Smiths neuer Roman auf Englisch vor: „Companion Piece“, zu Deutsch etwa Gegenstück oder Pendant. Luchterhand kündigt die deutsche Übersetzung von Silvia Moravetz für den 24. Mai unter dem Titel „Gefährten“ an. Eine wörtliche Übersetzung ist nicht leicht, denn wie so vieles in diesem Roman ist auch der Titel mehrdeutig. „Companion Piece“ ist einerseits als Pendant zu Smiths Jahreszeitenzyklus, der zwischen 2016 und 2020 veröffentlicht wurde, zu verstehen, ein neues Etwas, das als Kunstwerk gleichsam neben den Vorgängern hängt.
Andererseits will der Roman auch selbst Begleitung, ein „Begleit-Stück“ sein. Schon die vier Romane „Frühling“, „Sommer“, „Herbst“ und „Winter“ waren als eine Art laufender Kommentar zum Zeitgeschehen angelegt. Smith berührt im neuen Roman die Flüchtlingskrise, innenpolitische Spannungen in Großbritannien, soziale Ungleichheit und die Auswirkungen des Klimawandels. Dennoch ist „Companion Piece“ kein Thesenroman. Smith ist ebenso sehr wie an Politischem, vielleicht sogar vor allem an Sprache, Literatur und Kunst interessiert.
Eine Momentaufnahme der Pandemie
Schon das Jahreszeiten-Quartett war voll von Sprachspielen und intertextuellen Bezügen wie Bezügen zu Werken anderer Künste, die von Shakespeare über Rilke bis zur Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty und der Bildhauerin Barbara Hepworth reichen. „Companion Piece“ setzt diesen Trend fort. Der Roman webt ein dichtes Netz an Anspielungen und Zitaten aus der Antike und der englischen Literaturgeschichte und setzt damit einen hoffnungsvollen Kontrapunkt zur gegenwärtigen Tendenz der sozialen Entfremdung und Diffusion. Als Momentaufnahme der Covid-19-Pandemie schafft es das Buch, die Verschiebungen in der Zeitempfindung einzufangen, die insbesondere während der Lockdowns viele von uns erlebten. So werden uns bei der Lektüre Formen des Miteinander-Seins wieder gegenwärtig. Denn darum geht es in „Companion Piece“: Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und Geschehen zu schlagen und herauszufinden, was uns zu sozialen Wesen macht.
Sandy, eine Mittfünfzigerin, ist Künstlerin. Sie macht aus Gedichten Gemälde. Das Ut-pictura-poesis-Prinzip des Horaz wird wörtlich genommen – aus Worten entsteht ein Bild vor Augen. Smith lädt dazu ein, über die Möglichkeiten von Kunstformen nachzudenken. Radio, Fernsehen, nicht zuletzt Tiere (wie der Hund des Vaters, den die Erzählerin hütet) können Gefährten, „companions“, sein, aber für Sandy sind die ständigen Begleiter vor allem Bücher. Hier nun scheint Ali Smith selbst durch, die – wie ihre Protagonistin – Ende fünfzig, lesbisch und in ihrem Heimatland Großbritannien eine vehemente Kämpferin für Literatur und deren Wirkmacht ist. Der Perspektive der Ich-Erzählerin, die schon vor der Pandemie ein zurückgezogenes Leben führte, werden die Erfahrungen eines Zwillingspärchens, Anfang zwanzig, gegenübergestellt. Vernunft, Vorsicht und scheinbare Vorurteilsbehaftung der Boomer-Generation treffen auf den pandemiebedingten Frust und die universalistisch erweckten Einstellungen der Generation Z. Smith brilliert als Erfinderin der Dialoge zwischen Sandy und den Zwillingen Eden und Lea, in denen die Abkürzungen der für Generationen typischen Codes auf Nachfrage neue Verbindungen stiften.