Das längste Langzeitvorhaben der Ethik ist zu kurz gedacht
- -Aktualisiert am
Der „Longtermism“ von William MacAskill macht seine Rechnung ohne die heutigen Ahnen künftiger Menschen.
Wie gewichtig sind die Ansprüche zukünftiger Generationen an die Gegenwart? Wie weit reichen unsere Pflichten in die Zukunft? Die Moralphilosophie wird von diesen Fragen in Atem gehalten. Anlass dafür sind nicht nur Krieg, Pandemie und Klimawandel, sondern auch ein verführerisch einfaches Argument, das sich – in der Zeitwahrnehmung der Philosophie – geradezu wie ein Lauffeuer verbreitet. Dieser Gedankengang, den der Oxforder Moralphilosoph William MacAskill in einem Buch („What We Owe the Future“. A Million-Year View. Basic Books, New York 2022) ausgearbeitet hat, lautet: Das Wohlergehen der Menschen in der Zukunft hat moralisches Gewicht. Und die Anzahl dieser zukünftigen Menschen könnte, in Abhängigkeit von uns und unserem heutigen Tun, atemberaubend groß sein. Das kumulative Gewicht des Glücks dieser Menschen ist so gewaltig, dass unsere Pflichten ihnen gegenüber alle anderen moralischen Anliegen in den Schatten stellen. Eine möglichst glückliche und lange Zukunft der Menschheit hat daher absoluten moralischen Vorrang. Wir sollten unsere humanitären Bemühungen vollständig auf langfristige Ziele verlegen, etwa die Besiedelung neuer Planeten oder Maßnahmen gegen eine vorzeitige Auslöschung der Menschheit durch Asteroiden.
Mit ihrem berüchtigten Faible für Ismen bezeichnet die aktuelle Philosophie diese Position als Longtermism. Der Longtermism hat eine Radikalität, die sich erst auf den zweiten Blick deutlich zu erkennen gibt. Denn seine Ziele widersprechen nicht nur – wie es in der Ethik ja zu erwarten ist – unserem Eigeninteresse. Vielmehr sind es auch unsere bisherigen moralischen Anliegen, von denen wir uns lossagen sollen. Engagieren Sie sich im Kampf gegen Weltarmut oder gegen die Massentierhaltung? Verwenden Sie sogar womöglich viel Zeit auf die evidenzbasierte Suche nach den effektivsten wohltätigen Organisationen? Dem Longtermism zufolge ist das sträfliche Kurzsichtigkeit. Spenden Sie besser für die Raumfahrt oder die Entwicklung sicherer KI!
Zugang zu allen exklusiven F+Artikeln
2,95 € / Woche
- Alle wichtigen Hintergründe zu den aktuellen Entwicklungen
- Mehr als 1.000 F+Artikel mtl.
- Mit einem Klick online kündbar
Login für Digital-Abonnenten
Sie haben Zugriff mit Ihrem F+ oder F.A.Z. Digital-Abo