Postkoloniale Rechtswissenschaft : Der Ausschluss dauert an
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Die deutsche Kolonialherrschaft hat Ruinen hinterlassen, wie hier bei Keetmanshoop in Namibia, und Begriffsruinen in der früheren Kolonialwissenschaft. Bild: Hanspeter Baumeler / Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0
Nachricht an Alexandra Kemmerer: Die Autorenauswahl des Bandes „(Post)Koloniale Rechtswissenschaft“ ist ein Akt symbolischer Gewalt.
Stellen Sie sich vor, im Jahre 2023 erschiene ein Sammelband zu feministischer Rechtswissenschaft mit nur männlicher Beteiligung oder ein Sammelband zu Antisemitismus ohne jüdische Beteiligung. Würde dies gegen wissenschaftsethische und -kommunikative Grundsätze verstoßen? 2023 ist der Sammelband „(Post)Koloniale Rechtswissenschaft“ im renommierten Verlag Mohr Siebeck mit ausschließlicher Beteiligung weißdeutscher Autorinnen und Autoren erschienen. Ein Anlass, sich grundlegende Gedanken über die Wissensproduktion und Diversität in der deutschen Rechtswissenschaft zu machen.
Eine der Autorinnen des Bandes twitterte, es sei ein „Anfang gemacht“ worden. Diese immerhin ehrliche Sichtweise erinnert ironischerweise an die koloniale Imagination, an die „Entdeckung“ neuer Wissensterritorien. Gerade Juristen, die sich der Bewegung der Third World Approaches to International Law (TWAIL) zurechnen dürften, sollten mit der kolonialvölkerrechtlichen Fiktion der terra nullius bestens vertraut sein.
Weiße übernehmen die Wissensproduktion
In linksliberalen Kreisen, in denen ein Großteil der Herausgeber und Autoren akademisch zu lokalisieren ist, weiß man, dass Juristen aus Minderheitsgruppen schon länger zu diesen Themen denken, arbeiten und veröffentlichen, nicht zuletzt im Berliner Humboldt-Milieu, der Heimatregion eines Herausgebers und mehrerer Autoren. In Anbetracht der Erfahrung des Herausgeberteams kann ein so grober Missgriff wohl kaum Zufall sein. Kühn wirkt das Fehlen der sonst üblichen tokens, pietätlos die Unsichtbarmachung der nichtweißen Forscher, die zu wort- und schriftlosen Opfern gemacht werden, während Weiße die akademische Wissensproduktion übernehmen. Im Übrigen auch eine alte Sünde der Ethnologie, einschließlich der Rechtsethnologie, einer der frühen kolonialen Rechtsdisziplinen.
Der Band scheitert an der eigenen Erwartung der Dekolonialität, die das Erkennen eigener Privilegien in der weißen Wissensproduktion und das Teilen knapper Ressourcen verlangen müsste. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es geht nicht darum, dass weiße deutsche Wissenschaftler in diesen Themenfeldern nichts zu suchen haben, im Gegenteil. Vielmehr geht es um eine Verwirklichung einer dekolonialen Wissensproduktion und Rechtskritik.
In der deutschen Rechtswissenschaft stellen exkludierende Strukturen, die weiße Deutungshoheit aufrechterhalten, leider die Regel dar. Auch die progressivsten inklusive feministischer Juristinnen vergehen sich gegen ihr selbst auferlegtes Diversitätscredo. In konservativen wie linksliberalen Kreisen beteiligen sich weiße Männer und Frauen, alte und junge (mit entsprechendem Habitus!), eifrig an der sehr weißen Wissensproduktion, wodurch ohnehin minorisierte Wissenschaftlerinnen (unintendiert) ausgeschlossen werden.
Dazu kommt, dass Juristen of Color bereits bei der Themenwahl oft ausgebremst werden, etwa weil Betreuer bei Themen wie (Post)Kolonialismus und/oder Rassismus die Sorge haben, die eigene Betroffenheit könnte zu stark zum Ausdruck kommen. Weiße genießen hingegen einen wissenschaftlichen Vertrauens- und Objektivitätsvorschuss: Auch ohne jegliche Qualifikation oder Nähe zu einem Thema können sie ernst genommene Wissenschaft leisten, ohne Bedenken zu allen Themen forschen, herausgeben und sich profilieren. Hierfür steht der Sammelband exemplarisch. Inzwischen wird kolportiert, dass die Herausgebenden sich sogar bewusst für (weiße) etablierte Juristinnen und Juristen (ohne einschlägige Forschung) als Wegbereiter für dieses Thema entschieden hätten. Mainstreaming postkolonialer Rechtswissenschaft durch „whitesplaining“ also. Die hier erzeugte epistemische Gewalt ist ungeheuerlich und die Botschaft eindeutig: Die Subalternen mögen sich bitte hinten anstellen.
Solche benachteiligenden und ausgrenzenden Strukturen aufzubrechen verlangt hingegen, begabte angehende Juristen zu wissenschaftlichen Karrieren zu ermutigen – und zur Beteiligung an konkreten Publikationsprojekten. Das wäre keine Form partikularistischer Identitätspolitik, denn die eigentliche Identitätspolitik in der aktuellen Verfasstheit der deutschen Rechtswissenschaft ist die unausgesprochene weißdeutsche Norm, die sich nach außen als objektiv und meritokratisch darstellt. Eine zukunftsfähige qualitätsbasierte Rechtswissenschaft kann aber in einer globalen Welt und in der deutschen Migrationsgesellschaft nicht auf die eigenen wissenschaftshungrigen Talente verzichten, wie der Wissenschaftsrat schon 2012 anerkannte.