Erforschung von Notizbüchern : Besuch im Steinbruch des Autors
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Alexander von Humboldt besaß neben seinen Reisetagebüchern auch ein Notiz- und Adressbuch mit charakteristisch geneigten Einträgen Bild: Reproduktion Staatsbiliothek Berlin
Warum führen wir eigentlich Notizbücher? Schreibhefte von Dichtern oder Wissenschaftlern sind noch immer Stiefkinder der Forschung. Doch das ändert sich gerade.
Der junge Engländer hatte große Pläne: Gerade 18-jährig, brach er im Dezember 1933 auf, um quer durch Europa zu wandern, von Holland bis Konstantinopel. Natürlich sollte daraus später ein Reisebuch entstehen, mit Beobachtungen, Analysen und literarischen Essays, ein Dokument der politisch bewegten Zeit, Europas und nicht zuletzt des Autors.
Anfangs ging alles gut, der junge Mann schrieb eifrig auf, was er erlebte, und als er in München war, besaß er ein gut gefülltes Notizbuch. Doch dann wurde ihm in einer Absteige der Rucksack geklaut, und der Verlust der Notizen, erinnerte sich Patrick Leigh Fermor (1915 bis 2011) viele Jahre später, „wog schwerer als alles andere. All die Tausende von Zeilen, die blumigen Beschreibungen, die pensées, die philosophischen Höhenflüge, die Skizzen und die Verse!“
Kult um die „Lebenszeugnisse“
Die Verzweiflung des angehenden Autors kann man nachvollziehen, gerade heute, in einer Zeit also, in der sich um Notizbücher ein Kult entwickelt hat, und man in jeder Bahnhofsbuchhandlung eine Auswahl davon findet - angefangen mit dem Klassiker „Moleskine“. Dessen Mythos geht nicht zuletzt auf den Reisebuchautor Bruce Chatwin (1940 bis 1989) zurück, von dem der Satz überliefert ist: „Den Pass zu verlieren war die geringste Sorge, aber ein Notizbuch zu verlieren war eine Katastrophe.“
Das gilt sicher nicht im selben Maß für jedes Notizbuch und auch nicht für jeden, der eines führt. Vor allem aber fällt es gar nicht so leicht zu bestimmen, was ein Notizbuch eigentlich ist, und wie es sich etwa von einem Tagebuch unterscheidet. In Regelwerken für den Umgang mit Nachlässen in Bibliotheken werden deshalb Notizbücher unter „Lebenszeugnisse“ geführt - gemeinsam mit Briefen und Tagebüchern.
„Die Grenzen sind fließend“, sagt Gabriele Radecke, die Leiterin der Theodor Fontane-Arbeitsstelle an der Göttinger Universität. Schließlich finden sich auch in Tagebüchern oft Notizen der Autoren zu Recherchen oder plötzlichen Einfällen, und umgekehrt können auch Notizbücher tagebuchartige Einträge enthalten.
„Tagebuchaufzeichnungen sind in der Regel strukturierter, schon weil sie datiert sind“, sagt Radecke, „und oft steht eine Idee oder eine Ordnung dahinter.“ Wer etwa die Tagebücher des Autors Theodor Fontane (1819 bis 1898) mit dessen Notizbüchern vergleiche, stelle fest, dass die oft aus einem zeitlichen Abstand zum Erlebnis verfassten Tagebücher regelmäßig von vorn nach hinten abgefasst sind, während es in den Notizbüchern oft ziemlich durcheinander geht, und der erste Eintrag im Buch nicht unbedingt der früheste sein muss. Es kann auch vorkommen, dass sich mitten im Entwurf einer Theaterkritik, geschrieben wahrscheinlich während der Aufführung, der Hinweis auf einen Brief findet, den Fontane unbedingt schreiben will.
Regellosigkeit als Prinzip
Regelmäßig bleiben Seiten frei, um Raum für Ergänzungen und Korrekturen zu lassen. Weil sich der Schriftsteller bewusst gewesen sei, dass seine Tagebücher auch für die Nachwelt von Interesse waren, habe er „die größten Intimitäten“ dort lieber nicht niedergelegt, sagt Radecke, sondern eher in den Notizbüchern: „To-do-Listen, Packlisten, Rechnungen von Hotelübernachtungen, Medikamente, die er brauchte. Das geht schon sehr in die Privatsphäre.“
Wer Notizbücher benutzt, der weiß, dass Fontane mit dieser sprunghaften Technik nicht allein steht. Ein Kennzeichen dieser literarischen Gattung, schreibt der Luzerner Wissenschaftshistoriker Christoph Hoffmann in seinem Aufsatz „Wie lesen?“ am Beispiel der Hefte des Physikers Ernst Mach (1838 bis 1916), sei „ihre Regellosigkeit. Prinzipiell konnte alles in die kleinen Bändchen eingehen: vom Rezept für ,Risotto al la milanese‘ über Versuchsplanungen, Beobachtungen, Berechnungen, Messdaten, Stichworte für Vorlesungen, Prüfungsprotokolle, Briefkonzepte, Ansätze zu Aufsätzen bis hin zu Merkposten wie ,Fenster putzen‘ oder ,Notizbuch kaufen‘.“
Umso interessanter ist die Frage nach der Funktion des Notizbuchs für denjenigen, der es anlegt. Hoffmann unterscheidet zwischen „Werkbank“ des Autors einerseits und „Schreiblabor“ andererseits, zwischen dem Medium, das überwiegend schon die Keimzellen künftiger Werke in sich birgt, und dem Tummelplatz wüster Ideen, die sich selbst genug sind und gar nicht nach Weiterentwicklung zu Veröffentlichungen drängen. Als Beispiel für die Werkbank nennt Hoffmann Robert Musils (1880 bis 1942) Hefte, die postum unter der irreführenden Bezeichnung „Tagebücher“ publiziert worden sind: „Fast alles in ihnen, vom Literaturhinweis und -exzerpt über Personenskizzen, ausgearbeitete Entwürfe, Erinnerungen oder Tagesnotizen bildet Arbeitsmaterial Musils in verschiedenen Graden der Be- und Verarbeitung.“ Dagegen seien die Notizbücher Friedrich Nietzsches (1844 bis 1900) und Ernst Machs Orte, an denen Begriffe fraglich würden und sich neue Ordnungen ergäben, ohne dass daraus Vorstufen der Werke werden müssten.
Zwischen Werkbank und Schreiblabor
Wo - wie bei Musil - das Notizbuch letztlich als Steinbruch dienen soll, kann man das mitunter beinahe wörtlich verstehen, wenn etwa der jeweilige Autor seine dort ausformulierten Texte nicht mehr abschreiben mag, sondern sie heraustrennt und in die eigentlichen Werkmanuskripte überführt - in Fontanes Notizbüchern findet man mitunter die Reste zahlreicher säuberlich abgeschnittener Seiten, von denen längst nicht alle erhalten geblieben sind. Bekannt ist etwa sein Plan, auf der Basis einer Italienreise ein Buch über dieses Land zu schreiben. Im Notizbuch fehlt tatsächlich eine stattliche Zahl Seiten. Das Werk wurde aber nie geschrieben, und die herausgetrennten Notizen sind bislang nicht wieder aufgetaucht.
Fontanes „Notizbücher dienen zunächst als Rohmaterialdepot“, sagt Gabriele Radecke. „Wir finden in diesen ersten Aufzeichnungen aber auch schon spätere Überarbeitungen und Hinzufügungen, wie wir das von den eigentlichen Werkmanuskripten kennen.“
Diese Beobachtung berührt einen entscheidenden Punkt: Die Notizbücher Fontanes sind - ebenso wie die vieler anderer Autoren oder Forscher - nicht nur für den Gebrauch unterwegs oder unmittelbar während einer Recherche gedacht. Viele von ihnen werden später am heimischen Schreibtisch des Autors aufs Neue beschrieben und zum Teil erheblich ergänzt, was etwa die Frage der Chronologie der Notate für die Forschung noch komplizierter macht - wie will man sicher entscheiden, wann welche Korrektur angebracht worden ist?
Nachträglich überarbeitet
Manche Autoren bringen nachträglich eine eigene Ordnung in ihre Notizbücher, beschriften sie und legen Inhaltsverzeichnisse an. Alexander von Humboldt (1769 bis 1859) ließ die Hefte, die er seit dem späten achtzehnten Jahrhundert auf seinen Reisen mit sich führte, einige Monate vor seinem Tod binden. Diese neun sogenannten Amerikanischen Reisetagebücher umfassen 3500 Seiten und wurden kürzlich aus Privatbesitz erworben. Derzeit werden sie an der Universität Potsdam unter der Leitung des Romanisten Ottmar Ette erforscht.
Humboldt habe diese Hefte fast sein gesamtes Leben geführt und für sein publizistisches Werk auch ausgewertet, sagt Ette. Gleichzeitig hätte er aber nachträglich auch „Aktualisierungen, Veränderungen und neue Texte“ in die Notizbücher integriert. „Sie stellen sicherlich einen Steinbruch dar“, sagt Ette. „Aber, um im Bild zu bleiben: Da wird auch einiges an Steinen wieder zurückgekarrt.“
Das Ergebnis nennt Ette „Humboldts Lebensbuch“. Wer so etwas edieren will, was Ette in einem zweiten Projekt auch anstrebt, muss das Material nicht nur exzellent kennen. Er braucht auch ein solides Konzept, wie etwa kreuz und quer beschriebene Seiten, auf denen die Schreibrichtung mehrfach wechselt und auf denen Einträge quer über mehrere Seiten laufen, lesbar gemacht werden können. Natürlich muss zunächst der Text getreu wiedergegeben werden, auch wenn Humboldt ihn in mehreren europäischen Sprachen wie Französisch, Deutsch und Latein verfasst hat, mit Einsprengseln von Sprachen der indigenen Völker Süd- und Mittelamerikas.
Zweitens muss eine Edition zeigen, wo sich was auf einer Seite befindet. Sie muss berücksichtigen, womit auf welches Material geschrieben wurde, denn auch das erhellt den Schreibprozess - wer unterwegs ist, wird vielleicht eher zum Bleistift greifen als zu Tinte und Feder. Und sie muss zeigen, welche Querverbindungen der leidenschaftliche Netzwerker Humboldt selbst zwischen seinen Notizen zieht, getreu seiner (in einem der Hefte festgehaltenen) Erkenntnis: „Alles ist Wechselwirkung“.
Nicht jede Forschergruppe muss das Rad neu erfinden
An der Fontane-Arbeitsstelle in Göttingen steht dieses Konzept bereits. Sie wurde vor vier Jahren begründet. Neben anderen Projekten widmen sich Gabriele Radecke und ihre Mitarbeiter seit 2011 der Edition der 67 Notizbücher Fontanes. Sie soll in Form von gedruckten Büchern und auch digital erfolgen. Dabei geht es Radecke insgesamt um eine möglichst vollständige Berücksichtigung aller Informationen, die das Ausgangsmaterial bereitstellt, von der jeweiligen Papierart und Bindung bis hin zu eingelegten oder -geklebten Zusätzen, die mit der gleichen Treue erfasst werden wie die Keimzellen zu Fontanes später publizierten Werken. Die Notizbuchseiten werden als Faksimile und außerdem als Transkription zugänglich gemacht, was im Original quer zur üblichen Schreibrichtung verläuft, tut das auch in der Edition, die auch die Unterschiede zwischen Schönschrift und flüchtig hingeworfenen Zeilen berücksichtigt.
Das Programm, mit dem in der Fontane-Arbeitsstelle und in anderen Editionsprojekten diese Schritte ausgeführt werden, ist die an der Göttinger Universitätsbibliothek entwickelte virtuelle Forschungsumgebung „TextGrid“. Das Open-source-Projekt ermöglicht das Erfassen von Daten, das gemeinsame Arbeiten von unterschiedlichen Forschern daran bis hin zum Publizieren und Archivieren der Ergebnisse. Damit stellt sie ein Angebot dar für ein Standardprogramm, das ähnlich geartete Editionsprojekte nutzen könnten, damit im Bereich des digitalen Publizierens mit ganz ähnlichen Anforderungen nicht jede Forschergruppe das Rad neu erfinden muss.
Manchmal hilft der Verlust
Dass jedenfalls eine Edition, die auf die verschiedenen Schichten einer Handschrift setzt und deren Genese in den Mittelpunkt stellt, gerade bei so sprunghaft entstandenen Texten wie Notizbüchern bestens am Platz ist, liegt auf der Hand. Am Ende dieser Bemühungen könnte so nicht nur die Erschließung wichtiger Quellen zu den jeweiligen Autoren stehen, sondern die Edition von Texten aus eigenem Recht. Und darüber hinaus endlich eine Philologie der Gattung Notizbuch.
Ihr bliebe es auch überlassen, die Frage zu diskutieren, wie Patrick Leigh Fermor nach dem Verlust seiner Notizen eines der schönsten und gefeiertsten. Reisebücher des 20. Jahrhunderts schreiben konnte, das eben Erlebnisse beschreibt. Trotz des Verlusts? Oder gerade deshalb? Ist es am Ende gar nicht so schade um die Gedichte des 18-jährigen und seine pensées?
Ohne das verlorene Buch wird man diese letzte Frage nicht klären können. Es spricht aber einiges dafür, dass bereits der Akt, etwas Erlebtes in Worte zu fassen und aufzuschreiben, die Dinge im Kopf des Autors ordnet und den Weg zum Reisebuch vorbereitet. Ganz egal, ob er später wieder in seine Notizen schauen kann oder nicht.