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Papierkrise : Wir brauchen Altpapier!

Aus Klorollen und Versandkartons lässt sich kein helles Papier herstellen. Bild: Martin Albermann

Die Papierwirtschaft steckt in der Krise: die Preise im Großhandel steigen in die Höhe, Verlage bangen um Projekte. Schuld ist auch das Altpapier – zu viele Kartons landen in der Tonne, zu wenig Briefe und Zeitungen. Doch die braucht es, um wieder neues Papier zu produzieren.

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          Die gesetzlichen Krankenkassen wollen eine mögliche allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19 nicht überwachen – und führten dazu Anfang der Woche ein überraschendes Argument ins Feld: Papiermangel. Für die rund 120 Millionen Anschreiben, die im Falle einer Impfpflicht an die Versicherten verschickt werden sollen, fehle schlichtweg das Papier, so der GKV-Spitzenverband. „Wir können dies nicht nachvollziehen“, meint ein Sprecher der deutschen Papierindustrie dazu. „Im Bereich der Büro- und Administrationspapiere gibt es keinen Versorgungsengpass.“

          Rebecca Hahn
          Freie Autorin in der Wissenschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Noch vor einigen Monaten aber sah das anders aus: Damals hatte es tatsächlich zeitweilige Lieferengpässe gegeben, weil durch die Coronakrise weniger Zeitungen, Briefe und Werbeprospekte und dafür umso mehr Versandkartons in der Altpapiertonne gelandet waren. Inzwischen zirkuliert wieder mehr Papier im Recyclingkreislauf – unter anderem, weil der Handel wieder mehr Print-Werbung druckt. Insgesamt verzeichnete die deutsche Papierindustrie bei den sogenannten grafischen Papieren im vergangenen Jahr ein Plus von neun Prozent. Und die Papierpreise steigen weiterhin. Der allgemeine Trend, dass deutlich mehr Kartonagen verbraucht werden als in früheren Jahren, hält zudem an und wirkt sich auch auf das Papierrecycling aus.

          Auf dem Gelände des Entsorgungsfachbetriebs Meinhardt in Hofheim-Wallau in der Nähe von Frankfurt lässt sich der Papierverbrauch in Augenschein nehmen. Der Betriebsleiter Dennis Göttert geht voran, auf einen großen Haufen unsortierten Altpapiers zu. Als Erstes fallen die braunen Kartons ins Auge, die gut die Hälfte des Abfallbergs ausmachen. Kleinere Versandtaschen von Onlinehändlern finden sich ebenso darunter wie sperrige Möbelverpackungen und kaputte Umzugskartons. Dazwischen liegen zerfledderte Werbeprospekte, bunt bedruckte Müslischachteln, Waschpulverkartons und vereinzelt ein paar Tageszeitungen.

          Lohnt sich die spezielle Sortierung von Altpapier noch?

          Pro Jahr bereitet das mittelständische Unternehmen an vier Standorten im Rhein-Main-Gebiet knapp 120.000 Tonnen Altpapier auf, etwa die Hälfte davon wird in Hofheim-Wallau sortiert. „Wir sammeln und verwerten den Inhalt der Blauen Tonnen im Main-Taunus-Kreis“, berichtet Göttert. Doch diese Mengen an Altpapier reichen nicht, um die Papiersortieranlage zu betreiben. Im Auftrag einer Papierfabrik werde deshalb auch noch Altpapier aus der Stadt Mainz sortiert. Hinzu kämen Gewerbeabfälle, die direkt von Firmen, Tankstellen oder Discountern angeliefert würden.

          „Der Papieranteil in den Blauen Tonnen ist in den letzten Jahren drastisch gesunken“, erzählt Göttert. Vor ein paar Jahren hätte das Altpapier noch zu gut sechzig Prozent aus Papier bestanden. Mittlerweile seien die Papiertonnen aus Privathaushalten zu etwa gleichen Teilen mit Papier und Karton gefüllt. „Wahrscheinlich gibt es dafür zwei Gründe“, sagt Göttert. „Zum einen werden mehr Päckchen über den Onlinehandel verschickt. Zum anderen geht die Zahl der Zeitungsabos zurück.“

          Bild: F.A.Z.-Grafik Piron

          Dieses Papier-Karton-Verhältnis hat sich seit Beginn der Corona-Krise noch weiter verschoben: Tageszeitungen fielen zum Teil dünner aus, Broschüren und Flyer wurden in kleiner Stückzahl produziert, und das Altpapier aus Großbüros fiel weg. Gleichzeitig erlebte der Onlinehandel einen Aufschwung – und damit auch der Paketversand. Aus den dunklen Fasern der Kartons lässt sich jedoch kein helles Papier herstellen. Entsprechend hoch fallen die Preise für Altpapier aus: Im Schnitt hätten sich diese im Jahr 2021 verdoppelt, schreibt der Verband „Die Papierindustrie“.

          Es ist sogar fraglich, ob gewöhnliches Papier in Zukunft überhaupt noch gezielt recycelt wird. Eigentlich zählen Zeitungsseiten und Kopierpapier zu den wertvollsten Papierabfällen aus privaten Haushalten. Papierfabriken kaufen diese sogenannten Deinking-Papiere gezielt ein, um sie zu entfärben und anschließend wieder neues Papier zum Bedrucken daraus herzustellen. Doch wenn immer weniger davon in den Papierabfällen landet, wird es für die Fabriken irgendwann unrentabel, Deinking-Papiere gezielt aussortieren zu lassen, sagt Göttert. „Um eine Tonne Altpapier zu sortieren, verlangen wir einen fixen Preis, mit dem sich unsere Betriebskosten decken lassen.“ Diesen Preis müssten die Papierhersteller auch dann zahlen, wenn der Ertrag an Deinking-Papier niedriger ausfalle. Das funktioniere, solange die Nachfrage parallel sinke. „Statt Zeitungs- und Kopierpapier wird dann einfach mehr Wellpappe hergestellt.“ Manche Fabriken würden in Zukunft nur noch in Kartonage und gemischte Papierabfälle sortieren lassen, vermutet Göttert.

          Wie verschiedene Altpapierqualitäten in Hofheim-Wallau voneinander getrennt werden, zeigt Göttert an der Sortieranlage. Die befindet sich in einer großen Halle. Rechts unter dem Dach ist noch das Ende eines Sternsiebs zu erkennen. In diesem drehen sich Achsen mit sternenförmigen Fingern, zwischen denen nur kleinere Papierteile hindurchfallen, direkt auf ein Fließband, das sie weiter durch die Anlage befördert. Große Kartons schießen über die Wellen hinaus und landen direkt in einer Bucht am Hallenboden. Göttert geht voraus zur nächsten Bucht, in der sich kleinteilige Papiere sammeln: „Hier wird alles ausgesiebt, was kleiner ist als die erste Fraktion, aber größer als ein DIN-A5-Blatt.“

          Das versteckte Plastik in der Papierverpackung

          Über eine Gittertreppe führt der Weg hinauf zum nächsten Sortierschritt: Die verbliebenen Papiere und Pappstücke laufen dabei unter dem sogenannten Paper Spike entlang, einer Walze mit dicken Nadeln. Papier fällt davon einfach wieder ab, Pappe wird aufgespießt. So teilt sich das Altpapier auf zwei verschiedene Bänder auf. Durch eine Tür geht Göttert in den Nachbarraum, in dem die Bänder mit den Papieren ankommen. Gerade steht die Anlage still, es ist Schichtwechsel, sagt Göttert. Normalerweise würden hier zwei Mitarbeiter an den Fließbändern stehen und falsch sortierte Teile wieder herauslesen. Was in Hofheim-Wallau per Hand geschieht, wird in anderen Sortieranlagen maschinell erledigt. „Unsere Anlage ist schon etwas in die Jahre gekommen“, erzählt Göttert. Modernere Geräte seien meist mit Nahinfrarotsensoren ausgestattet, die etwa Kunststoffe detektieren können. Alles, was kein Papier sei, werde dann per Druckluft aus dem Stoffstrom geschossen. Auf diese Weise lassen sich beispielsweise auch moderne Lebensmittelverpackungen aus Verbundmaterialien leicht erkennen, die trotz ihrer Papieroptik dünne Kunststoffschichten enthalten, wie manche Keksverpackungen.

          Bild: F.A.Z.-Grafik Piron

          Im Vergleich zu anderen Abfallarten, um die sich der Entsorgungsfachbetrieb Meinhardt ebenfalls kümmert, sei die Papiertonne gut sortiert, sagt Göttert. „In Städten landen vielleicht etwas mehr papierfremde Stoffe in der Blauen Tonne als auf dem Land, aber insgesamt gibt es nur wenige Fehlwürfe.“ Viele Fremdstoffe geraten unbeabsichtigt in den Papiermüll, Büroklammern etwa oder Folienreste an Kartons. Was nicht bereits in der Vorsortierung entdeckt wird, wird spätestens bei der Herstellung von neuem Papier entfernt.

          In der Papierfabrik wird das Altpapier in einen Pulper gegeben, eine Art überdimensionierten Mixer, und in Wasser aufgelöst. Kleinere Plastikteilchen und andere lose Fremdkörper werden dabei als sogenannte Spuckstoffe herausgefiltert. Metalle und größere Kunststoffteile verheddern sich zu langen Zöpfen, die man aus dem Faserbrei herauszieht. Darum ist es beispielsweise auch kein Problem, einen ganzen Aktenordner in den Papiermüll zu entsorgen, erklärt Göttert. „Das bisschen Metall wird im Pulper einfach rausgefiltert.“ Wer korrekt vorgehen will, könnte den Inhalt seiner Aktenordner separat in die Tonne werfen, damit das höherwertige Papier nicht gemeinsam mit dem Pappordner in der Kartonagefraktion landet. Für die Papierfabrik stelle eine höhere Störstoffquote höchstens ein ökonomisches Problem dar.

          Um wieder helles Recyclingpapier herstellen zu können, werden die Papierfasern nach dem Auflösen gereinigt. Um die Druckfarben zu entfernen, werden dem Altpapierbrei bestimmte Seifenstoffe beigegeben. Die Farbteilchen lagern sich an den Chemikalien an und können als Schaum abgeschöpft werden. Anschließend werden die Fasern noch mit Sauerstoff oder Wasserstoffperoxid gebleicht. Die leicht bräunlich anmutende Ökooptik mancher Recyclingpapiere dient nur dem guten Gefühl: „Da wird vielleicht einfach noch ein wenig Farbe an den Fasern belassen“, sagt Göttert. Aber das sei teilweise eher ein Marketing-Gag. „Auch Recyclingpapier kann rein weiß sein.“

          Damit aus dem nun bleichen Faserbrei wieder Papier wird, verdünnt man diesen mit Wasser und sprüht ihn auf ein Siebband. So entsteht eine dünne Papierbahn. Ein Großteil der Flüssigkeit tropft dabei direkt ab, der Rest wird abgesaugt, mit Walzen herausgepresst und durch dampfbeheizte Zylinder verdunstet. Als Hilfsmittel können dem Papier noch Stärke für eine höhere Festigkeit oder Füllstoffe wie Kalk und Porzellanerde für eine hellere und glattere Optik hinzugefügt werden. Eine abschließende Leimung verhindert, dass das Papier die Druckfarben zu stark aufsaugt.

          Niedrigerer Recyclinganteil beim Papierverbrauch

          Laut Umweltbundesamt bestanden die im Jahr 2019 in Deutschland hergestellten Papiere, Pappen und Kartonagen zu 79 Prozent aus Altpapier. Vor allem Kartons, bei denen das Aussehen kaum eine Rolle spielt, werden häufig ganz aus Recyclingmaterial hergestellt. Auch in Deutschland erzeugtes Zeitungspapier besteht meist zu hundert Prozent aus recycelten Abfällen. Doch obwohl in Deutschland viel Altpapier wiederverwertet wird, sieht die Recyclingquote beim Papierverbrauch schlechter aus. Hier werden im Schnitt nur Altpapieranteile von etwas mehr als fünfzig Prozent erreicht, weil durch Importe auch viele Primärfaserpapiere ins Land gelangen.

          Für deren Produktion wird meist Zellstoff genutzt. Um diese überwiegend aus Cellulose bestehenden Fasern zu gewinnen, werden Holzhackschnitzel über mehrere Stunden in einem bis zu 190 Grad heißen Sud aus Chemikalien gekocht. Alternativ kann auch Holzstoff für die Papierproduktion genutzt werden. Damit sind sämtliche Stoffe gemeint, die gewonnen werden, wenn Holz unter hohem Druck mechanisch zerfasert wird. Bei der Holzstoffgewinnung werden zwar fast hundert Prozent der Fasern genutzt. Der Nachteil ist allerdings, dass Holzstoffpapiere brüchiger sind und schneller vergilben. Deshalb werden sie häufig nur für kurzlebige Papierprodukte wie Werbeprospekte und Bierdeckel eingesetzt.

          Als Ausgangsmaterial für die Faserstoffe dienen Holzreste wie Sägewerksabfälle oder dünne Baumstämme, die bei der Durchforstung von Wäldern entnommen werden. Auch Eukalyptus, der auf degradierten Böden in den Tropen angepflanzt wird, wird zu Papier weiterverarbeitet. Alle Holz- und Zellstoffimporte unterliegen dabei den Regularien der Europäischen Holzhandelsverordnung, mit denen sichergestellt werden soll, dass kein illegal eingeschlagenes Holz verarbeitet wird. Dieses kann jedoch über fertige Druckprodukte in die Europäische Union gelangen. Aufwendig gearbeitete Bücher zum Beispiel werden aus Kostengründen häufig im außereuropäischen Ausland hergestellt. Dabei gerät mitunter auch Holz aus illegalem Einschlag in die Papierproduktion. Deutsche Papierhersteller fordern deshalb schon seit langem, dass die Europäische Holzhandelsverordnung auf alle Holzprodukte ausgeweitet wird, um solche Schlupflöcher zu schließen.

          Damit insbesondere Druckpapiere nicht vergilben, müssen die Fasern nach der Gewinnung noch gebleicht werden, was am besten mit Chlor gelingt. Da Chlorverbindungen die Umwelt jedoch stark belasten, wird in Europa heute kein Elementarchlor mehr verwendet. Stattdessen kommen meist chlorarme Bleichen zum Einsatz, durch die weniger umweltschädliche Verbindungen entstehen. Diese sogenannte ECF-Technologie, kurz für „elementary chlorine free“, wird weltweit für rund neunzig Prozent aller gebleichten Papiere genutzt. Gänzlich chlorfreie TCF-Bleichverfahren, „totally chlorine free“, kommen bei etwa fünf Prozent der globalen Papierproduktion zum Einsatz.

          Recyclingpapier spart Wasser und Energie

          Einmal hergestellt können Papierfasern bis zu zwölfmal recycelt werden. Forscher der TU Darmstadt konnten in Laborversuchen sogar zeigen, dass Fasern theoretisch auch nach bis zu 25 Zyklen noch für das Recycling geeignet wären. Die niedrigeren Quoten in der Praxis kommen dadurch zustande, dass nicht alle Fasern wieder in den Altpapierkreislauf eingespeist und zu kurze oder verunreinigte Fasern bei der Aufbereitung aussortiert werden.

          Gegenüber der Primärgewinnung werden dennoch große Mengen an Wasser und Energie eingespart. Je nach Hersteller und Sorte wird für ein Kilo Recyclingpapier rund siebzig Prozent weniger Wasser verwendet als für ein Kilo Primärfaserpapier, außerdem werden etwa sechzig Prozent weniger Energie benötigt. Gerade bei Papieren, die nur einmal verwendet werden, etwa bei Toilettenpapier, Küchenrolle und Taschentüchern, lohnt sich deshalb der Griff zu Recyclingpapieren. Andernfalls werden wertvolle Papierfasern in die Toilette gespült oder im Hausmüll entsorgt, und sind damit für den Altpapierkreislauf unwiederbringlich verloren.

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