Auf dünnem Eis
Text und Fotos von TORSTEN SCHÄFER13.11.2017 · In Nordschweden ziehen die Hirten der Samen seit Jahrhunderten mit den Rentieren. Doch der Klimawandel macht den Menschen und den Tieren zu schaffen. Nun breitet sich auch noch eine neue Krankheit aus.
V iermal hat er das Lasso geworfen im ersten Schnee, den der kalte Bergwind bringt. Immer wieder ist es am riesigen Geweih abgeglitten, konnte der Rentierbulle im letzten Moment entkommen und sich in die Herde schieben, die seit dem frühen Morgen wie ein Strudel vor der milchiggrauen Herbstsonne im Gatter kreist. Mit dem fünften Wurf zieht sich die Plastikschlinge zu. Das Tier bäumt sich auf und stemmt seine 200 Kilo gegen den Hirten, der mit Mühe an seinem Lasso dagegenhält. Zwei andere Hirten eilen herbei. Zu dritt können sie mit aller Kraft den König der Herde zu sich zerren. Dann sind sie an ihm und über ihm und sägen das Gehörn ab, das gefährlich nah auf seine Nase zugewachsen war. Sie lassen den Bullen laufen, der, ohne Krone, im Strom der 2500 grunzenden Artgenossen verschwindet.
Es ist fast wie vor 1000 Jahren. Die Hirten arbeiten mit und in der Natur. Sie sind mit ihren Tieren vollständig von den Launen der Natur abhängig. Aber weil der Klimawandel diese Launen hier oben am Polarkreis stark verändert hat, gehören die skandinavischen Samen zu den Urvölkern, die auf der ganzen Welt am stärksten von den Folgen der Erderwärmung betroffen sind. In der polaren Arktis steigen die Temperaturen schneller als anderswo, taut der Schnee rascher, ändern sich die Jahreszeiten und die Vegetation. Deshalb haben die indigenen Völker rund um den Globus in den vergangenen Jahren ihre Stimme erhoben und sich lautstark in die Klimaverhandlungen eingemischt. Auch auf dem Klimagipfel in Bonn sind Gesandte der Samen vertreten. Insgesamt leben rund 70.000 in Russland und Skandinavien. Nur wenige von ihnen ziehen aber noch mit den Rentieren. Dabei hat das ihre Kultur über Jahrhunderte geprägt und bestimmt.
Dreißig Samen aus den Dörfern rund um die schwedische Minenstadt Gällivare sind hinauf in die einsame Hochebene gezogen, um Kälber zu markieren. So wie jeden Herbst hier in Nordlappland, nahe der Grenze zu Norwegen. Die meisten sind am Morgen mit dem Hubschrauber ins Hochtal geflogen. Andere sind mit Quads, zu Fuß oder mit Motocrossrädern von Vaisaluokka heraufgekommen, dem Samendorf unten am See, in das sie viermal im Jahr für einige Wochen ziehen.
Der Raub des alten Landes
Auch der Fotograf und Rentierhirte Carl-Johan Utsi hat eine Hütte in der Siedlung. Im Sommer kommen beide Kinder mit und seine Frau, eine samische Umweltaktivistin „von der finnischen Seite“. Niemals würde Carl-Johan von einer Finnin reden. Denn dann käme seine Frau aus einem anderen Volk. So wie die Schweden eines sind, die die Samen „kolonialisiert“ haben, wie er sagt. Mit Missionierungen. Mit dem Raub des alten, ihres Landes.
Fremde ernten hier oft skeptische Blicke. Erst mit der Zeit kommen zögernde Fragen. Als das Gespräch aber auf den Klimawandel kommt, erzählen die Hirten von plötzlich auftretenden Mückenschwärmen im Hochland, von der Baumgrenze, die sich verschiebt, und von den später einsetzenden Wintern. Alles Faktoren, die Rentieren auf der ganzen Welt zu schaffen machen und die Bestände dezimiert haben, wie Wissenschaftler der University of Northern Iowa 2016 am Beispiel der russischen Taimyr-Halbinsel zeigten. Dort ging der Bestand seit der Jahrtausendwende um rund 40 Prozent zurück. Die schwedischen Samen erzählen auch von den dünner werdenden Kälbern – die sie heute fangen und markieren. Schon Jugendliche werfen die Lassos, bändigen die Tiere und schneiden mit dem Samenmesser das Familienmuster ins Ohr.
Die neue Eisschicht ist mit das größte Problem“, sagt Carl-Johan Utsi. Die Schicht entsteht, wenn warmes Wetter mit Regen hereinbricht und es danach wieder friert. Dann können die Rentiere nicht mehr zu den Flechten und Moosen durchdringen. „Wir müssen wegen des Klimawandels zufüttern, früher fast nie, jetzt immer.“ 500 Kilo am Tag für die weitverstreuten Tiere. Das bedeutet: mit Schneemobilen bei minus 20 Grad hinaus in die Weite fahren und irgendwie versuchen, die Rentiere zu Futterstellen zu bringen. Es ist ein enormer Aufwand, der durch die Erderwärmung und ihre Folgen immer größer wird. Rentierzucht ist Identität und kein Job, den die Samen wegen des Geldes machen. 7,30 Euro, so viel betrug 2016 nach Berechnungen des Natural Resources Institute Finland der durchschnittliche Stundenlohn eines Rentierzüchters.
16.000 Rentiere hält die Samen-Gruppe von Carl-Johan Utsi im Herbst und Winter. Manche der Hirten ziehen mit ihren Tieren bis an die Küste, um sie über Ostsee-Eis auf Inseln zu führen. Auch dieser Weg ist immer öfter versperrt. „Es ist der Wind“, sagt Magnus Kuhmunen, ein drahtiger Same mit Bart und Baseballmütze. „Er ist oft schneller als 20 Kilometer in der Stunde, das gab es bis vor wenigen Jahren nie; er drückt das Eis zusammen, bis es bricht.“ Vor fünf Jahren waren 900 Tiere auf einer Insel eingeschlossen, sieben Wochenlang. Dann erst kam „Hilfe von oben“ und brachte Eis, das die Herde trug.
Sie hassen den Stausee
Zur Mittagspause entfachen die Samen ein Birkenfeuer und stellen eine Eisenpfanne mit Rentierspeck hinein; dazu schneidet Utsi dünne Scheiben Rentierschinken für die Runde. Im Tal schimmert der Stausee. Die Samen hassen ihn. Seinetwegen mussten sie ihr Dorf viermal neu errichten. In vier Stufen ließ der schwedische Staat den See von 1919 an fluten. Auf seinem Grund liegen die einstigen Weidegründe der Samen. Jetzt müssen sich Carl-Johan Utsi und die anderen immer aufs Neue fragen, wie sie über den See kommen, wo der Wind häufig so gefährlich weht. Mit dem Boot durch die schäumenden Wellen? Oder mit dem Hubschrauber, der auch die Crossmaschinen hinüberfliegt, mit denen sie die Herden zusammentreiben? 2009, erzählt Carl-Johan, seien 300 Tiere auf einem See ertrunken, dessen Eis sie für sicher hielten. „Es war eine Ausweichroute, wieder einmal.“ Jetzt fahren sie die Rentiere mit Lastern ins Tal. „Teuer. Wieder eine Hürde mehr.“
Am Abend, nachdem sie die Kälber gefangen und einige Bullen geschlachtet haben, sagt Carl-Johan Utsi: „Wir haben uns immer angepasst. Aber jetzt verändert sich alles zu schnell.“ Sein Vater habe 25 gleiche Winter erlebt. „Ich hatte zwei, die vergleichbar waren.“ Utsi zeigt Fotos auf seinem Handy: einen geschossenen Elch. Und seine Kinder mit großen Hechten, „die aber nur Hundefutter geben“. Saibling, Forelle, Maräne – sie seien essbar, aber auch bedroht, weil mit dem Klimawandel das Seewasser wärmer werde und Hechte die Edelfische verdrängten.
Utsi kennt auch die Geschichten über die vielen Selbstmorde unter den Hirten; in Norwegen fahren deswegen sogar Psychologen in die Dörfer. Aber er spricht nicht darüber. „In jeder Familie eine Depression“, mehr mag Utsi nicht sagen. „Es ist schwer, aber wir schaffen es.“ Nur die Seuche könnte alles zerstören, schiebt er nach. „CWD, alle haben Angst.“
Im März 2016 fanden Biologen nordwestlich von Oslo ein totes Rentier. Sie entdeckten auffällige Proteine, die das Norwegische Veterinärinstitut der Chronic Wasting Disease, kurz CWD, zuordnete. Das ist eine bisher nur aus Amerika bekannte Prionenkrankheit, die dem Rinderwahnsinn ähnelt. Die Prionen greifen das Gehirn der Hirsche, Elche oder Rentiere an, die an Gewicht verlieren und nach einigen Wochen sterben. Was die Krankheit nach Europa gebracht hat, ist „für uns noch völlig unklar“, sagt Anna Skarin, die an der Universität für Agrarwissenschaften in Uppsala die Rentierhaltung erforscht.
2000 Tiere wurden vorsorglich geschossen
Weitere Rentiere der norwegischen Herde wurden positiv getestet. Die Behörden haben entschieden, 2000 Tiere vorsorglich schießen zu lassen. Das Risiko einer schnellen Ausbreitung ist groß, weil Rentiere eng beieinander leben. „Wir müssen sehr aufpassen“, sagt die Wissenschaftlerin Skarin, die in einer stärkeren Zusammenarbeit das Mittel sieht, um den Samen im Klimawandel eine bessere Zukunft zu bereiten. Zusammenarbeit untereinander, mit dem Staat und auch mit den Bergbauunternehmen, gegen deren Erzminen die Samen auf die Straße gehen und vor Gericht. Meistens verlieren sie; erst im Gerichtssaal, danach ihre Weidegründe. „Die Samen passten sich immer an, indem sie mit den Rentieren auswichen. Das können sie kaum mehr“, sagt Skarin. Immer mehr Rentierhirten geben daher auf. Skarin und ihre Kollegen versuchen, die Samen zu unterstützen. Sie schlagen ihnen andere Weidegründe oder neue Rhythmen vor. Die Hirten könnten etwa länger auf den Sommerweiden im Gebirge bleiben als bisher, sagt die Forscherin.
Doch für solche Umstellungen braucht es Geduld. Zumindest besuchen einige junge Hirten schon Rentier-Kurse an den Universitäten. Und sie haben Vorbilder, die ihnen Mut geben: Sängerinnen wie Marie Boine und Sofia Jannok, die auf den Klimawandel aufmerksam machen. Im Musikvideo hisst Sofia Jannok hoch oben auf einem Berg die samische Flagge und singt von „ihrem Land“. Herden ziehen dem Himmel entgegen. Und Jannok stimmt den melancholischen Singsang der Samen an, mit dem sie in Verbindung mit Tieren und Landschaften treten. Im hellen Gesang ist die dieselbe Hoffnung zu spüren, die auf der Same-Statue in Gällivare steht: Mein war das Land in alten Zeiten, beschützt mein Volk in der Zukunft.
Quelle: F.A.Z.-Woche
Veröffentlicht: 13.11.2017 14:00 Uhr
